SRF News: Welche Verkettung von Umständen brachte Van der Bellen in die Wiener Hofburg?
Joe Schelbert: Da ist einmal der erste Wahlgang von vor vier Wochen. Die Vertreter der Regierungsparteien, Sozialdemokraten und Konservative sind hochkant gescheitert. Das war schon mal eine grosse Überraschung. Dann kam der Umstand dazu, dass der andere Kandidat, Norbert Hofer von den Freiheitlichen, quasi ein politischer Antipode von Van der Bellen ist. Das heisst, es gab Raum für beide. Man konnte sich vom andern absetzen und man konnte sich profilieren.
Welche Stimmen brachten Van der Bellen den äusserst knappen Sieg?
Es waren die Städte, die jungen Leute, die Frauen – die Frauen haben zu 60 Prozent Van der Bellen gewählt – und die besser Gebildeten. Und die höhere Wahlbeteiligung, 73 Prozent der Wahlberechtigten haben an der Wahl teilgenommen. Das heisst, auch die Verlierer der ersten Runde, Sozialdemokraten und Konservative sind an die Urne gegangen. Van der Bellen konnte stärker mobilisieren als Hofer. Er hat letzte Woche die Frage gestellt, wollt ihr eine blaue Republik, eine autoritäre Republik? Viele haben Van der Bellen gewählt, nicht weil sie ihn lieben, sondern weil sie Hofer verhindern wollten.
Norbert Hofer spricht davon, dass Van der Bellen einen Angstwahlkampf geführt habe. Stimmt das?
Das würde ich nicht als Angstwahlkampf bezeichnen. Er hat die Gefahren klar benannt, viele hatten tatsächlich Angst, dass Hofer es mit seiner Drohung, die Regierung zu entlassen und das Land abzuschotten, ernst meint. Man darf nicht vergessen, dass der österreichische Präsident diese Macht hätte. Er kann sogar einen Monat lang mit Notverordnungen regieren. Viele haben gedacht, dass er das tatsächlich macht. Diese Angst hat mitgeschwungen, aber das hat sich Hofer auch selbst eingebrockt mit seinem Wahlkampf. Er hat ja solches erzählt. Und Van der Bellen hat darauf reagiert. Ich würde das nicht als Angstmache deklarieren, sondern als klares Benennen.
War es auch ein Votum für die neue Regierung unter dem Kanzler Christian Kern, nach dem Motto. Geben wir der Regierung eine Chance?
Sicher auch. Aber ich würde spekulieren, wenn ich sagen würde, ich wüsste, wie die Leute gewählt haben und warum. Aber wenn Werner Faymann, der ehemalige Kanzler, noch an der Macht wäre, wäre das Resultat anders herausgekommen, davon bin ich überzeugt. Es mag eine Rolle gespielt haben, dass man sagt, wir wollen Herrn Kern nicht abwählen, indem wir Norbert Hofer wählen.
Was ist von Alexander Van der Bellen als Bundespräsident zu erwarten? Er versprach ja, das Amt traditionell auszuüben, also rein repräsentativ tätig zu sein.
Nicht ganz. Er hat schon gesagt, dass er eine traditionelle Rolle einnehmen will, aber er hat auch gesagt, dass er sich einmischen will, in Gesetzgebungsverfahren etwa. Er hat auch angekündigt, dass wenn die Freiheitliche Partei die nächsten Wahlen gewinnt, nicht mit absoluter Mehrheit, aber als stärkste Partei, dann würde er Heinz-Christian Strache, der Chef der Freiheitlichen, nicht zum Kanzler ernennen. Van der Bellen hat da schon klare Positionen. Aber er kann sich ja nicht in die Alltagsfragen der Regierung einmischen. Er muss eine Balance finden zwischen Grand Old Man und ab und zu sagen: Leute, das geht so nicht.
Bräuchte nicht das gespaltene Österreich gerade jetzt Orientierung, also einen aktiven Bundespräsidenten?
Das ist eine Frage des Abwägens. Ein Präsident soll sich in die grossen Fragen einmischen, Flüchtlingskrise, Wirtschaftskrise, Arbeitslosigkeit zurzeit, nicht in die alltägliche Politik, wie das Norbert Hofer angekündigt hat. Er wollte ja sogar an Sitzungen der Minister in Brüssel teilnehmen. Aber angesichts der Regierung in Österreich, die nichts bewegt und die stagniert, wäre Orientierung gefragt. Wer weiss, vielleicht schafft ja Alexander Van der Bellen diesen Spagat und bringt das zusammen.
Ein Bundespräsident vertritt ja alle Bürgerinnen und Bürger und ist eine integrative Figur. Ist das dem grünen Politiker, der im Wahlkampf auch seine Verachtung gegenüber der FPÖ nicht verheimlicht hat, zuzutrauen?
Das bezweifle ich. Weniger wegen der Wählerinnen und Wähler der FPÖ, aber wegen den Spitzenpolitikern der FPÖ. Die Freiheitlichen wollen eine andere Republik, sie wollen zum Beispiel verschiedene Sozialversicherungen für In- und Ausländer und sie wollen eine Abschottung des Landes. Alexander Van der Bellen will das sicher nicht. Die Frage ist, ob er den Schritt zu den Anhängern der Freiheitlichen schafft. Deren Sorgen sind Arbeitslosigkeit, Wohnungsnot und Flüchtlinge, die sie als Konkurrenz empfinden. Es ist zwar weniger die Aufgabe des Präsidenten, als die der Regierung, doch es wird schwierig, da eine Brücke zu bauen.