SRF News: Was wissen Sie über den jüngsten Schlag gegen die Meinungsfreiheit in der Türkei?
Er richtet sich gegen Cumhuriyet. Das ist die wichtigste, noch verbliebene Oppositionszeitung im Land. Neben Chefredaktor Murat Sabuncu wurden mindestens vier weitere Redaktoren verhaftet. Nach dem Verleger wird gefahndet. 13 Haftbefehle wurden ausgestellt. Auch gegen den früheren Chefredaktor Can Dündar, der im Exil lebt, wird gefahndet. Cumhuriyet ist die Zeitung, die letztes Jahr enthüllt hat, dass die Türkei Waffen an Islamisten in Syrien lieferte. Das machte Präsident Recep Tayyip Erdogan zornig. Er kommentierte es mit dem Satz: Die Journalisten von Cumhuriyet würden dafür büssen müssen. Ausserdem wurden über dieses Wochenende 15 weitere Medien geschlossen; vor allem prokurdische und kurdische. Und dies laut Augenzeugen ohne Gerichtsbeschluss, ohne Vorwarnung, ohne alles.
Schon kurz nach dem gescheiterten Putsch hat die türkische Regierung bereits zahlreiche Medien geschlossen und Journalisten verhaftet. Gibt es überhaupt noch unabhängige, kritische Medien im Land?
Neben Cumhuriyet gibt es immer noch tapfere, kleine Internet-Plattformen und kleinere Zeitungen, die das versuchen. Aber unabhängiger und kritischer Journalismus ist praktisch unmöglich geworden. Und er ist unterdessen einfach lebensgefährlich für türkische und kurdische Journalisten. Was die Repression gegen die Medien angeht, ist die Türkei wieder Spitzenreiter im internationalen Vergleich und liegt sogar vor China. In den letzten Monaten wurden 99 Journalisten verhaftet, Hunderte Medien geschlossen, Tausende Journalisten haben ihre Stelle verloren. Unzähligen wurde die Ausreise verboten oder ihr Pass wurde für ungültig erklärt. Das heisst, die Medien- und Meinungsfreiheit wird extrem unterdrückt.
Die Repression richtet sich nicht nur gegen Journalisten. Auch zehntausende regierungskritische Bürger sitzen in Gefängnissen...
Diese sogenannten Säuberungen seit dem gescheiterten Militärputsch vom Juli sind in ihrer Dimension für uns kaum noch vorstellbar. Allein an diesem Wochenende wurden wieder 10'000 Angestellte aus dem öffentlichen Dienst entlassen. Nach offiziellen Angaben sind 37'000 Personen seit Juli verhaftet worden. Im Moment sieht man zum Beispiel, dass sich die Repression gegen die Kurden immer gezielter gegen hohe Politiker richtet. Nach der Verhaftung der beiden Bürgermeister von Diyarbakir befürchten nun viele, dass nächstens kurdische Parlamentarier festgenommen werden. Im Fokus stehen auch die türkischen Akademiker und die Universitäten. Zum Beispiel kann Präsident Erdogan unter dem Ausnahmezustand ganz direkt und eigenmächtig Universitätsrektoren ernennen.
Die Türkei ist immer noch ein demokratischer Staat – zumindest auf dem Papier. Kennt Präsident Erdogan noch Grenzen?
Er ist daran, die Grenzen zu sprengen. Und zwar im übertragenen Sinn, wenn er jetzt davon spricht, die Wiedereinführung der Todesstrafe zu erwägen. Er will dies dem Parlament vorlegen, ganz egal, was Europa davon hält. Erdogan hat gesagt, das zähle für ihn nicht. Und im konkreten Sinn will er die Grenzen sprengen, in dem er den Vertrag von Lausanne von 1923 anzweifelt. Dieser Vertrag anerkennt die Grenzen nach dem Zerfall des Osmanischen Reiches, auch die zwischen Griechenland und der Türkei. Jetzt erhebt Erdogan plötzlich Anspruch auf die Ägäisinseln, die vor der Türkei liegen, und sagt, die gehörten zur Türkei. Ob er das ernst meint, oder ob er einfach die nationalistischen Gefühle anheizen will, kann man nicht sagen. Aber es ist auf jeden Fall gefährlich und unverantwortlich.
Das Gespräch führte Brigitte Kramer.