SRF News: Herr Meyer, Sie sind derzeit in Serbien an der Grenze zu Kroatien. Das Flüchtlingshilfswerk UNHCR spricht von einem neuen Höhepunkt. Diese Woche kamen in Slowenien 12'000 Menschen an einem Tag an, so viele wie noch nie. Teilen Sie die Einschätzung der UNO-Flüchtlingshilfswerks?
Leo Meyer: Ganz klar. In den letzten Monaten waren es durchschnittlich um die 3000 Leute, die in Serbien ankamen und auch wieder hinausgingen. Gestern wurden von der Südgrenze rund 6000 gemeldet, also etwa doppelt so viele wie an einem normalen Tag. Serbien ist ein typisches Transitland, die meisten Menschen bleiben nicht mehr als zwei bis drei Tage. Es ist ein Korridor von Süden her. Die Leute kommen von Mazedonien und reisen dann per Bus an die Grenze zu Kroatien, die momentan offen ist.
Kommen vor allem Einzelpersonen oder ganze Familien an?
Das ist interessant zu beobachten. Als wir vor einenhalb Monaten mit unserer Arbeit begannen, waren es mehr Einzelpersonen, auch jüngere. Jetzt kommen mehr Menschen im Familienverband, vor allem Kinder und Kleinkinder, einige sogar mit Neugeborenen. Wenn man in diesem Kulturraum von Familien spricht, heisst das Grossfamilien. Sie reisen wenn immer möglich im Verbund, das gibt ihnen auch einen gewissen Schutz. Meistens hat eine der zehn bis zwanzig Personen die Funktion des «Clan-Chefs». Manchmal treffen wir auch Leute, die Teile ihrer Familie verloren haben. Sie bleiben dann auch länger, um sich möglichst wieder zu treffen und Famlienangehörige zu suchen.
Wir sehen zurzeit Bilder von Menschen, die durch Flüsse waten, die die Nacht völlig durchnässt im Freien verbringen müssen, Regen und Kälte ausgesetzt sind. Wie geht es den Leuten, die bei Ihnen ankommen?
Es kommen Menschen ohne Schuhe an – das muss man sich einmal vorstellen.
Sie sprechen hier eine ganz zentrale Frage an: Der Winter kommt. Es ist noch nicht Winter, aber die letzten Tage haben wir einen Vorgeschmack davon erhalten, es war kalt und vor allem auch regnerisch. Das erschwert die Reise für die Menschen ungemein. Von unserem Sanitätsposten an der Grenze erhalten wir jeweils Rückmeldungen darüber, was sie brauchen. Vor einem Monat war es vor allem Verbandszeug zur Wundbehandlung und ähnliches. Jetzt sind Menschen erkältet. Es geht ihnen eindeutig schlechter. Während dem Frühherbst konnten sie noch draussen übernachten. Diese Zeit läuft ab. Serbien hat sehr strenge Winter, es ist dann kälter als in der Schweiz. Das wird eine ganz neue Herausforderung.
Womit können Sie den Menschen aktuell am besten helfen?
Nahe beim Grenzübergang zu Serbien haben wir einen Posten mit einem Zelt aufgebaut. Dort verteilen wir Grundnahrungsmittel, Brot, Früchte, vor allem auch Wasser. Verstärkt kommt Winterkleidung dazu, beispielsweise kommen Menschen ohne Schuhe an – das muss man sich bei der Kälte und dem Regen einmal vorstellen. Wir müssen aber selektiv sein. Wir können nicht allen Schuhe und Regenmäntel geben. Dazu fehlen uns auch die Mittel. Wir wählen dann vor allem Familien mit Kindern aus, damit wenigstens sie etwas bekommen. Schliesslich unterstützen wir die Menschen mit einem kleinen medizinischen Team. Sie machen, was vor Ort möglich ist, zum Beispiel Wundbehandlung. Und was sehr wichtig ist: Wer wirklich in ein Spital muss, kann einer lokalen Einrichtung zugewiesen werden.
Das Gespräch führte Roger Aebli.