SRF News: In welchem Umfang werden Kulturgüter aus Syrien und Irak entwendet und auf dem internationalen Kunstmarkt verkauft?
Michael Müller-Karpe: Die Verluste sind enorm. Man spricht von mehr als 10'000 Objekten. Allerdings hat man noch keine genauen Zahlen. Auf der anderen Seite: Archäologische Funde aus Museen sind registriert. Sie werden irgendwann wieder auftauchen – wenn nicht in unserer Generation, dann in 100 oder 200 Jahren. Die Gegenstände werden dannzumal identifiziert und den ursprünglichen Eigentümern – etwa dem irakischen Staat – zurückgegeben werden können.
Wieso sind Sie so sicher, dass die geraubten Gegenstände wieder auftauchen werden?
Der schönste Fund, den man illegal erworben hat und zuhause im Keller aufbewahrt, ist nichts wert, wenn man ihn nicht zeigen kann. Deshalb wird er eines Tages wieder auftauchen. Die eigentliche Katastrophe findet aber sowieso nicht in den Museen, sondern an den archäologischen Stätten statt. Diese werden systematisch geplündert. Mit den dort gefundenen Gegenständen wird ein nimmersatter internationaler Antikenmarkt mit Hehlerware gefüttert. Das eigentliche Problem ist dabei die Zerstörung der im Fundbereich der Objekte im Boden enthaltenen Informationen. Das ist Wissen über jene Menschen, auf deren Schultern wir gewissermassen stehen. Schliesslich sprechen wir von Mesopotamien, der Wiege der Zivilisation. Hier sind die Mathematik, die Astronomie oder die gelagerte Achse erfunden worden. Alles, was wir über die Menschen damals in Erfahrung bringen konnten, war dort im Boden gespeichert. Diese Informationen werden unwiederbringlich von den Raubgräbern zerstört.
So lange es einen Markt gibt, gehen die Raubgrabungen weiter.
Schon immer sind Kulturgüter im Irak und in Syrien geplündert worden. Doch man hat den Eindruck, dass der sogenannte Islamische Staat das Ganze auf ein neues Niveau hebt. Ist der Schaden, der dadurch entsteht, schon abschätzbar?
Wenn wir dereinst wieder in die beiden Länder reisen können, werden sie verwüstet sein. Trotzdem können dann immer noch Dinge im Boden sein, die wir schützen müssen. Es ist nicht so, dass alles verloren wäre. Sondern wir stehen nach wie vor in der Pflicht. Deshalb muss man sich im Klaren sein: Mit jedem archäologischen Objekt ungeklärter Herkunft, das erworben wird und für das Geld fliesst, wird die weitere Raubgrabung unterstützt. Solange ein Markt da ist, gehen die illegalen Grabungen und Zerstörungen an den Fundstätten weiter. Deshalb ist es so wichtig, dass wir diesen zerstörerischen Handel mit geraubten Kulturgütern austrocknen.
Wie funktioniert der Handel denn konkret?
Wie das unter dem sogenannten Islamischen Staat passiert, ist schwierig einzuschätzen. Doch aus früheren Recherchen weiss man, dass es ein ausgeklügeltes, sehr gut funktionierendes Netz aus perfekt durchorganisierten, mafiösen Strukturen gibt. Das fängt an mit dem Bauern, der vor Ort plündert, geht über kleine Hehler, die die Gegenstände aufkaufen bis hin zu Schmugglern, welche sie in den Libanon oder in die Türkei schaffen. Schliesslich landen die Objekte bei den vornehmen Repräsentanten und Auktionshäusern hier im Westen. Dass sich Terroristen mit archäologischen Funden finanzieren können funktioniert ja nur deshalb, weil es diese Strukturen bereits gibt.
Glauben Sie, dass nun eine ganze Flut von syrischer und irakischer Raubkunst auf Europa zukommt?
Ja, es ist damit zu rechnen, dass der Markt sehr bald mit diesen Objekten überquellen wird. Dann wird es darum gehen, dass die Strafverfolgungsbehörden tatsächlich tätig werden und die Güter beschlagnahmen. Archäologen werden sie dann bestimmen und sich dafür einsetzen müssen, dass die Objekte wieder an ihre Herkunftsländer zurückgegeben werden.
Das Gespräch führte Andrea Martin Christen.