Ende der 1970er-Jahre flohen hunderttausende Vietnamesen vor den neuen kommunistischen Machthabern. «Wir sind von Seeräubern überfallen worden, sie haben uns alles weggenommen. Nur einen kleinen Sack Kleider haben sie uns gelassen. Wir sind sehr traurig», schilderte die Vietnamesin Tu Yinye dem Schweizer Radio damals ihre Flucht übers Meer.
Flüchtlinge direkt eingeflogen
«Boatpeople» wurden die Flüchtlinge genannt. Laut Schätzungen ertranken 250'000 Menschen im Meer, unzählige wurden von Piraten überfallen. In Ländern wie Malaysia, Thailand oder Indonesien waren die Flüchtlinge nicht willkommen. Bilder von übervollen Flüchtlingsbooten, die abgewiesen wurden, schockierten die Welt.
Auf Bestreben der UNO einigten sich 1979 schliesslich die wohlhabenden Industriestaaten in Genf: Anstatt auf gefährlichen See- und Landrouten konnten die Flüchtlinge in südostasiatischen Empfangszentren warten und per Flugzeug direkt in die Aufnahmeländer im Westen reisen. Die USA nahmen mit Abstand am meisten Flüchtlinge auf.
Dramatische Bilder wecken Hilfsbereitschaft
Einige tausend durften aber auch in die Schweiz. Hans-Rudolf Wicker, Professor für Sozialanthropologie, erinnert sich an die Hilfsbereitschaft der Schweizer Bevölkerung: Am Tag nachdem der Bundesrat die Aufnahme von 6000 Vietnamesen bekanntgegeben hatte, habe die Boulevardpresse in grossen Lettern geschrieben, dies sei eine Schande – weil die Schweiz nicht mehr Flüchtlinge aufnehme. «Heute ist das unvorstellbar», so Wicker, der in den 1980er-Jahren den psychosozialen Dienst für Flüchtlinge aus Südostasien in Bern leitete.
Die Schweizer hätten schon immer «sehr grosse Gefühle» für Flüchtlinge gehabt, die aus kommunistischen Ländern gekommen seien; wie etwa für jene aus der Tschechoslowakei oder Ungarn. Zudem hätten die dramatischen Bilder im Fernsehen in der Bevölkerung tiefe Gefühle geweckt. Entsprechend gross war auch das Wohlwollen der Schweizer gegenüber den Vietnamesen.
Gefühle der Hilfsbereitschaft werden auch in der aktuellen Flüchtlingskrise geweckt. Aber die Möglichkeit einer direkten Einreise fehlt. Flüchtlinge aus Syrien oder Irak schlagen sich auf eigene Faust über den gefährlichen See- und Landweg nach Westeuropa durch. Hier sieht Wicker Handlungsbedarf – nach dem Vorbild von damals. Denn dann müssten die Flüchtlinge nicht diese strapaziöse Reise auf sich nehmen. Ausserdem wüssten die Aufnahmeländer so, «wer kommt – und wie viele».
Die USA stehen in der Pflicht
Einer, der ein international abgestimmtes Programm vehement fordert, ist der amerikanische Migrationsexperte Itamar Mann von der Georgetown Universität in Washington DC. Syrische Flüchtlinge, die sich bereits in sicheren Staaten wie Jordanien oder der Türkei, Griechenland oder Italien befinden, könnten vor Ort auf die koordinierte Aufnahme in die USA oder in andere Länder warten. «So könnte man die Flüchtlinge und die Last besser verteilen, als es heute geschieht», betont Mann.
Insbesondere die USA stünden nun in der Pflicht, fährt er fort. «Es handelt sich hier nicht nur um eine europäische Krise. Die Flüchtlingskrise hat auch damit zu tun, dass die USA 2003 den Irak angriffen, und damit Chaos in der ganzen Region anrichteten», betont Mann. Weil Europa aber geografisch näher liege, sei es nun vor allem gefordert.
Langes Warten in den Lagern
Allerdings: Problemlos verlief das US-Aufnahmeprogramm für die geflohenen Flüchtlinge aus Vietnam damals nicht: «In den Lagern und Empfangszentren in Südostasien kam es zu vielen Menschenrechtsverletzungen. Die Lebensbedingungen waren miserabel und viele Flüchtlinge mussten auch nach dem Erhalt ihres Visums lange warten bis sie weiter in ein Aufnahmeland fliegen konnten», sagt der US-Migrationsexperte.
Er sei nicht optimistisch, was ein neues Programm angehe. Dafür müssten die Aufnahmeländer ihre Quoten massiv erhöhen. Und dazu brauche es wiederum ein globales Abkommen. Es müsse ein Programm sein, das über die europäischen Länder hinausgehe. Denn diese könnten die Flüchtlingskrise nicht alleine bewältigen.