Am 9. September trat die Oppositionspolitikerin der Grünen, Katrin Göring Eckhardt, ans Rednerpult im Berliner Bundestag: «Wir erleben in Deutschland derzeit ein echtes Septembermärchen. Wir sind Weltmeister der Hilfsbereitschaft und Nächstenliebe», sagte sie.
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Schon zwei Wochen später kommt der innenpolitische Experte der CDU-Fraktion, Armin Schuster, im Deutschlandfunk zum Schluss, dass Deutschland nicht alleine die Welt rette.
Diese Woche nun beschliesst die deutsche Regierung ein Asylbeschleunigungsgesetz und Innenminister Thomas de Maizière tritt vor die Kameras: «Wir wollen damit auch ein klares Signal an diejenigen senden, die sich aufmachen und nicht politisch verfolgt werden und nicht aus einem Bürgerkriegsland stammen. Wir wollen ihnen sagen, kommt gar nicht erst.» Sie hätten keine Chance und würden Deutschland wieder verlassen müssen.
Willkommensstruktur fehlt
Die schiere Anzahl der einreisenden Menschen haben diesen Meinungsumschwung in Deutschland herbeigeführt. Im August kamen 100‘000 Flüchtlinge nach Deutschland, im September allein 170‘000 nach Bayern. Die Zahlen für ganz Deutschland liegen noch nicht vor. Nach der Willkommenskultur hat Deutschland ein Problem mit der Willkommensstruktur und muss sich damit auseinandersetzen, wie es die Flüchtlinge unterbringen will.
Wichtig ist weiter, dass Flüchtlinge in Deutschland ein Gefühlsthema sind. Deutschland hat ein schlechtes Gewissen aus der Geschichte. Und viele wie diese Frau in Thüringen wissen, was Flucht heisst: «Meine Familie waren auch Flüchtlinge. Meine Mutter musste zweimal fliehen und mein Vater auch.» Das führt dazu, dass die Flüchtlinge willkommen sind, doch die Wirtschaftsimmigranten wollen viele nicht.
Kein Einwanderungsgesetz
Deutschland hat zwar Einwanderungsregeln, aber kein kohärentes Einwanderungsgesetz. Keine klaren Regeln, wer als Immigrant gewünscht und gesucht ist. Mit der Folge, dass viele herumsitzen und warten. Sie erhalten keine Deutschkurse, bevor das Asylverfahren abgeschlossen ist, und wenn, dann nur von Freiwilligen.
Die freiwillige Hilfe funktionierte aus dem Stand, der Staat und die Bürokratie brauchten hingegen Wochen, um in die Gänge zu kommen. Es war, so scheint es, die Hilfsbereitschaft der Menschen, welche die Bundesregierung dazu brachte, die Arme zu öffnen.
Zivilgesellschaft und Regierung ziehen nicht am selben Strick
«Und hier ist nun wirklich das Faszinierende, warum auf der einen Seite eine Bereitschaft bei der Zivilgesellschaft da ist, sich neu aufzustellen und neue Wege zu gehen. Und die Regierung dann tatsächlich blockiert», sagt Werner Schiffbauer, Vorsitzender des Rates für Migration, einem Zusammenschluss von Wissenschaftlern.
Geld fliesst zwar rasch und grosszügig. Aber Schiffbauer kritisiert, dass das Innenministerium und nicht das Arbeitsministerium die Federführung bei den Gesetzespaketen hat. Und damit steht ein ganz anderer Geist hinter den Massnahmen. «Die Politik das Innenministeriums ist zu kategorisieren, zu sortieren, abgrenzen, zu isolieren und zu bekämpfen.» Das sei sozusagen eine polizeiliche Denkart, die sich durchsetze.
Der Ton ist tatsächlich anders geworden, auch angesichts der organisatorischen Grösse der Aufgabe. Aber wer genau hinhörte, konnte am selben Tag, an der vom Weltmeister der Hilfsbereitschaft und Menschenliebe die Rede war, von der Kanzlerin ebenfalls hören: «Diejenigen, die nicht aus politischer Verfolgung oder wegen Krieg zu uns kommen, diejenigen, die aus wirtschaftlicher Not zu uns kommen, werden nicht in Deutschland bleiben können.»
Die Stimmungslage in Deutschland ist noch immer von Emotionen und Mitleid geprägt, vom Begriff Flüchtling eben. Das Innenministerium versucht dem Ansturm Herr zu werden. Aber ein Versprechen von Angela Merkel ist bis jetzt bloss Ankündigung geblieben: «Wir sollten aus den Erfahrungen der 60er-Jahre, als wir Gastarbeiter zu uns gerufen haben, lernen, und von Anfang an der Integration allerhöchste Priorität einräumen.»