Ein sonniger Tag im September. Auf der Strasse in einer mittelständischen Wohnsiedlung aus den 1980-er Jahren in der Nähe von Bonn steht ein Audi mit dem Nummernschild «G 1927». Es ist ein kleiner Scherz des grossen alten Mannes. «G 1927» soll heissen: Genscher, geboren 1927. Im Auto empfängt der Staatsmann die zwei Reporter von Radio und Fernsehen SRF.
Der frühere deutsche Aussenminister wirkt fragil, aber im Gespräch charmant und lebendig. Es ist eine Ehre für uns Schweizer Journalisten, mit dem Mann, der Geschichte geschrieben hat, zu sprechen. «Aber für mich auch», sagt er und schiebt lachend nach: «Sie müssen sich vorstellen, ich habe eine Zeit erlebt, wo ich die Schweizer beneidet habe, dass sie bessere Führer hatten als wir.»
FDP-Politiker Hans-Dietrich Genscher war von 1974-1992 deutscher Aussenminister und von 1969-74 Innenminister. Die Entspannungspolitik der 1970-er Jahre gegenüber der Sowjetunion, der Fall der Mauer, die sogenannten 2+4 Verträge, die den Zweiten Weltkrieg endgültig beendeten und die Wiedervereinigung Deutschlands: Genscher war nicht Zuschauer, er war immer Akteur. «Ich finde, wir sind heute dort angekommen, wo wir eigentlich immer hätten sein müssen: in der Mitte Europas. Deutschland nicht als Grenzland in Europa, sondern als Anker des Zusammenhalts in Europa», bilanziert er.
Wir sind heute dort angekommen, wo wir eigentlich immer hätten sein müssen: in der Mitte Europas.
«Genscherismus», Politik des guten Zuredens
Genscher war ein rastloser Aussenminister im gelben Pullover. Einst sollen sich zwei Flugzeuge über dem Atlantik begegnet sein und in beiden sei Genscher gesessen, lautete ein Scherz über den wie Batman omnipräsenten «Genschman», wie man ihn nannte. «Genscherismus», bezeichnete man seine Aussenpolitik. Slippery, schlüpfrig beschimpften ihn die Amerikaner. Er selbst sagte: «Wenn ich ein Ziel nicht direkt erreichen kann, muss ich das Umfeld so verändern, dass das Ziel erreichbar ist.»
Wenn ich ein Ziel nicht direkt erreichen kann, muss ich das Umfeld so verändern, dass das Ziel erreichbar ist.
Ein sehr schönes Beispiel des «Genscherismus» schilderte der Politiker im Gespräch mit Radio SRF. Als er nach dem Fall der Mauer nach Moskau reiste und das Thema Wiedervereinigung ansprach, habe Gorbatschow schroff geantwortet, was in hundert Jahren sei, wisse niemand. «Da waren alle sehr enttäuscht. Als wir wieder draussen waren, sagte ich: ‹So enttäuscht bin ich gar nicht.› Wenn mans auf die Zeitschiene schiebt, kann man aus hundert Jahren auch weniger machen. So bin ich an diese Sache auch selbst herangegangen. Das heisst, ich musste den Russen begreiflich machen, dass die Generation, in der die Teilung stattfand, auch die sein sollte, in der sie überwunden werden sollte.»
Ein Glücksfall für Deutschland
«Genscher gab Deutschland ein Gesicht», so hat es Bundespräsident Joachim Gauck am Todestag des FDP-Politikers formuliert. Es sei das Gesicht einer verlässlichen, friedlichen und bescheidenen Nachkriegs-Bundesrepublik, eingebettet in die Europäische Union. Genscher war ein Glücksfall für Deutschland.
Für ihn, der in den 1950-er Jahren aus der DDR in den Westen gezogen war, erwies sich die Wiedervereinigung Deutschlands als Glücksfall. Legendär ist sein Halbsatz auf dem Balkon der deutschen Botschaft in Prag, als er 4000 geflüchteten und auf dem Botschaftsgelände zusammengepferchten DDR-Bürgern verkündete, dass sie in die Bundesrepublik ausreisen durften. «Wir sind zu Ihnen gekommen, um Ihnen mitzuteilen, dass heute Ihre Ausreise ….» Das war der Startschuss der Wiedervereinigung.
Genscher war Europäer und auch aus der Erfahrung von Prag 1989 unterstützte er im Gespräch mit SRF die Politik von Bundeskanzlerin Angela Merkel. «Wir müssen erkennen, dass die Zeit der Zäune in Europa vorbei sein sollte.»
Wir müssen erkennen, dass die Zeit der Zäune in Europa vorbei sein sollte.
Tiefpunkt München 1972
Aber man kann Genscher auch kritisieren. Weil Deutschland unter seiner Ägide als Aussenminister Slowenien und Kroatien so schnell als unabhängige Staaten anerkannt habe, habe es den blutigen Krieg in den 1990-er Jahren im zerfallenden Jugoslawien erst richtig befeuert, sagen Kritiker.
Als Innenminister trug Genscher Verantwortung für das dilettantische Vorgehen der deutschen Behörden bei der Ermordung von israelischen Sportlern während der Olympischen Spiele 1972 und dem Blutbad auf dem Münchner Flughafen. Genscher bot sich als Ersatzgeisel an. Die Befreiungsaktion missriet.
Ein riskanter Seitenwechsel
- Genscher wird weltweit gewürdigt Genscher wird weltweit gewürdigt
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- Der Aussenpolitiker im gelben Pullunder Der Aussenpolitiker im gelben Pullunder
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1982 führte Genscher die FDP aus einer Koalition mit der SPD direkt in eine Koalition mit CDU/CSU unter Helmut Kohl. «Königsmörder, Verräter und Wendehals», nannten ihn die Kritiker. Prominente FDP-Mitglieder wie etwa der spätere EU-Kommissar Günther Verheugen wechselten zur SPD. Die FDP verlor ihren sozialliberalen Flügel und langfristig ihre politische Breite. Innenminister Gerhart Baum – ein innerparteilicher Gegenspieler Genschers – hat am Tag von Genschers Tod jedoch klargestellt: «Er war nicht rechtsliberal. Er war rundumliberal.»
Genscher verteidigte den Seitenwechsel mit der Begründung, der Vorrat der Gemeinsamkeiten mit der SPD habe sich erschöpft. Nicht die FDP habe den sozialdemokratischen Bundeskanzler verraten, sondern die SPD habe sich vom sozialdemokratischen Kanzler Schmidt entfernt. Das ist nicht falsch, aber auch ein Stück «Genschersimus».
Geht Genscher in die Geschichtsbücher ein? Er ist es längst. Er war ein geschmeidiger Politiker und einer, der zurecht von sich sagen konnte: Der Erfolg habe ihm Recht gegeben.