Seit Montag harren Rahimullah, seine Frau und die vier Kinder im Keller ihres Hauses in der nordafghanischen Stadt Kundus aus: Drei Tage und Nächte ohne Strom, mit wenig Wasser und viel Angst. Heute früh liess die afghanische Regierung verlauten, ihre Truppen hätten die Stadt von den Taliban zurückerobert.
Doch Rahimullah, der mit SRF über Skype spricht, ist skeptisch: «Letzte Nacht gab es schwere Kämpfe in der Stadt. Dann, am Morgen, haben die Regierungssoldaten die Stadt eingenommen, aber die Taliban haben sich in den Häusern versteckt.»
Propagandasieg für die Taliban
Und dann sagt er: «Hören Sie die Gewehrsalven?» Trotz der schweren Kämpfe zeigt sich der afghanische Präsident Ashraf Ghani zuversichtlich, dass Kundus in kurzer Zeit wieder in Regierungshand sein wird.
Doch der Fall Kundus ist vor allem eines: eine grosse Schande für die afghanische Regierung und die afghanischen Sicherheitstruppen – und ein gewaltiger Propagandasieg für die Taliban. Kundus war 2001 die letzte Stadt, aus der die Taliban vertrieben wurden. Kundus ist auch die erste Provinzhauptstadt, die sie seit dem Abzug der meisten Nato-Truppen im vergangenen Jahr wieder erobert haben.
Und Kundus ist keine Ausnahme: Im ganzen Land haben die Taliban ihren Einfluss ausgeweitet. Von der einst sicheren Provinz Kundus kontrollieren sie heute beinahe zwei Drittel. In vielen anderen Provinzen, wo die Regierung schwach und korrupt ist, haben sie das Sagen. Mit der Einnahme von Kundus machte der neue Taliban-Chef Mullah Akhtar Mansour allen klar: Die Taliban sind nach Monaten von Machtkämpfen wieder vereint und stark. Friedensgespräche sind in weite Ferne gerückt.
Soldaten flohen und warteten auf Hilfe
Doch die Taliban sind so stark, weil die Regierung zerstritten ist, ihre Vertreter notorisch korrupt und die Sicherheitstruppen schwach sind. Trotz jahrelangem Training durch die Nato flohen die afghanischen Polizisten und Soldaten am Montag Hals über Kopf aus der Stadt Kundus und verschanzten sich auf dem Flughafengelände. Dort warteten sie auf Hilfe auch von den noch im Land stationierten Nato-Truppen.
Noch hat die Nato 13‘000 Mann in Afghanistan stationiert, vor allem, um afghanische Sicherheitskräfte auszubilden und zu beraten. Die Afghanen hängen auch finanziell am Tropf der Ausländer, vor allem der Amerikaner.
Zivilisten fürchten US-Kampfjets
Ende 2016 wollte die Nato ihre Truppen eigentlich ganz aus dem Land abziehen. Doch das werden sie nun überdenken müssen. Bereits gibt es viele Stimmen, die fordern, dass die Truppen länger bleiben. Dass die Taliban in den letzten Tagen nicht auch noch den Flughafen von Kundus eingenommen haben, ist vor allem amerikanischen Luftangriffen zu verdanken.
Auch in der vergangenen Nacht überflogen US-Kampfjets die Stadt. Für Rahimullah und seine Familie bedeutet das Hoffnung und Schrecken zugleich: «Ich fürchte mich jetzt am meisten vor den Kampfjets. Vielleicht werden sie unsere Häuser bombardieren, um die Taliban, die sich darin verstecken, zu töten. Wir können jetzt nur abwarten und hoffen.»