«Kanada hat sich heute für einen echten Neuanfang entschieden», rief Justin Trudeau seinen jubelnden Anhängern nach dem Wahlsieg in der Nacht zu. Er betonte das Einigende seiner Politik, die Kraft des Positiven, die sonnigen Wege, die Kanada bessere Zeiten bescheren würden.
Viele Kanadierinnen und Kanadier hätten nach fast zehn Jahren wohl ganz einfach genug von Harpers Politik, erklärt sich Auslandredaktor Christoph Wüthrich den derart klaren Sieg der Liberalen. Dabei hatte der konservative Premier eigentlich den Vorteil, dass mit den Liberalen und der sozialdemokratischen NDP (New Democratic Party) gleich zwei Parteien nach dem Amt trachteten.
Viele Stimmen in Quebec und aus der Agglomeration von Toronto
In den Umfragen lagen die beiden Parteien bis vor kurzem gleichauf, dann legten die Liberalen leicht zu. Viele Wählerinnen und Wähler haben nun offensichtlich für jene Partei gestimmt, welcher sie mehr Chancen im Kampf gegen Harper einräumten.
Ebenso wichtig war laut Wüthrich, dass Trudeau in seiner Heimatprovinz Quebec viele Stimmen machte, wo die Liberalen vor vier Jahren noch schwer abgestürzt waren. Auch kehrten viele bürgerliche Wähler im äusseren Agglomerationsgürtel um Toronto zu den Liberalen zurück.
Gute Figur nicht nur dank «guter Frisur»
Harper bezeichnete im Wahlkampf seinen Herausforderer Trudeau unter anderem als «gut frisierten Neuling». Er wurde damit nicht nur von der konservativen Wahlkampfmaschinerie unterschätzt. Halb Kanada machte sich während Monaten über Trudeaus gute Frisur lustig und erinnerte immer wieder daran, dass dieser nur Mittelschullehrer sei.
Im Wahlkampf der letzten elf Wochen hat sich aber gezeigt, dass Trudeau die Menschen überzeugen kann. Seine Sattelfestigkeit bewies er auch in TV-Debatten. Dem 43-Jährigen half aber auch sein grosses Charisma. Nicht zuletzt tritt er in die Fussstapfen seinen bekannten Vaters, der von 1968 bis 1979 und zwischen 1980 und 1984 Premierminister Kanadas war. «Zu was er wirklich fähig ist, wird sich erst zeigen. Viele haben ihm jetzt einfach einmal einen Vorschuss gegeben», erklärt Wüthrich.
Mit Reichensteuer den Mittelstand entlasten
Trudeaus Liberale Partei steht traditionell für Konsens und Ausgleich. Harper dagegen galt als Vertreter der Interessen der Reichen. Mit höheren Steuern für das reichste Prozent der Kanadier zur Entlastung des Mittelstands strebt Trudeau nun einen ziemlich grossen Wandel an.
Auch in der Wirtschaftspolitik unterscheidet sich der Neugewählte von Harper. Denn dieser förderte vor allem die Erdölförderung im Westen, was ihm den Vorwurf einbrachte, die Industrie im Osten zu vernachlässigen. Wegen der starken Fokussierung auf Erdöl rutsche Kanada nach dem Preiszerfall in eine Rezession. Trudeau wird hier sicher weniger polarisieren. Er will nicht sparen, sondern mit einem Infrastrukturprogramm die Wirtschaft im ganzen Land ankurbeln.
Bessere Voraussetzungen für Klimapolitik
Auch in der Klimapolitik wird der neue starke Mann Kanadas voraussichtlich etwas bewegen, wie Wüthrich sagt: Denn Harper unternahm nichts zum Nachteil der Erdölindustrie und schockierte die Welt mit den Austritt aus dem Kyoto-Protokoll.
Trudeaus Liberale dagegen bewiesen in den letzten Jahren, dass sie sehr wohl etwas gegen den Klimawandel tun wollen. So wurde auf Provinzebene beispielsweise ein System für einen Emissionszertifikathandel eingeführt. Heute leben zwei Drittel der Bevölkerung in Provinzen mit einer Steuer auf dem Klimagasausstoss. Kanada ist also eigentlich besser als sein Ruf, und Trudeau dürfte versuchen, auch die restlichen Provinzen an Bord zu bringen. Es könnte sich also etwas tun im Hinblick auf die Klimakonferenz im November.
Auch die Liberale Partei ist aber traditionell wirtschaftsfreundlich. Damit werden Widerstände bestimmter Wirtschaftskreise gegen die Klimapolitik auch bei Trudeau Gehör finden, schätzt Wüthrich.