SRF News: Inga Rogg, was wissen Sie über die Situation in der Stadt Tikrit?
Inga Rogg: Der irakische Regierungschef Haider al-Abadi sprach von einem grossen Sieg. Es stimmt offenbar, dass die irakischen Truppen und die schiitischen Milizen ins Zentrum der Stadt vorgedrungen sind. Dabei nahmen sie den Sitz des Provinzgouverneurs und einen Teil des ehemaligen Präsidentenpalastes ein. Aber die Kämpfe gehen weiter, die irakische Regierung hat die Stadt noch nicht ganz unter ihrer Kontrolle.
Dann hat das der irakische Premier, der in einem Tweet die Befreiung von Tikrit als historischen Meilenstein bezeichnete, etwas gar positiv dargestellt?
Zum jetzigen Zeitpunkt, das heisst angesichts dessen, was wir über die Lage in Tikrit wissen, ist dieser Meilenstein noch nicht ganz erreicht. Aber die Regierung ist auf dem Weg dahin. Es handelt sich vor allem um eine politische Botschaft. Für Abadi ist es wichtig, diesen Sieg für sich zu reklamieren. Denn er ging das Risiko ein und forderte gegen den Willen der schiitischen Milizen die Hilfe der Amerikaner an. Das führte zu viel Protest und Widerstand der Milizen, die sehr stark sind und im Grunde die Bodentruppen bilden. Insofern will Abadi da ein Signal setzen und sagen, hört, das ist der Sieg der Regierung und nicht euer Sieg.
Die Operation der irakischen Armee begann vor einem Monat. Es handelt sich um den bisher grössten Einsatz gegen die Terrormiliz IS. Dabei soll auch die IS-Hochburg Mossul zurückerobert werden. Wo steht diese Offensive wirklich?
Ich glaube nicht, dass eine Offensive auf Mossul in nächster Zeit bevorsteht. Denn Mossul ist ein anderes Kaliber als Tikrit: Aus Tikrit und der Umgebung waren die meisten Menschen bereits geflohen. In Mossul hingegen harrt ein Grossteil der Bevölkerung weiter aus. Kämpfer des IS hindern die Menschen offenbar daran, die Stadt zu verlassen. Deshalb muss die Offensive auf Mossul gut vorbereitet sein. In Tikrit hat sich gezeigt, dass die Milizen nicht in der Lage sind, ein bewohntes Gebiet einzunehmen.
Wie haben Sie das vor Ort erlebt? Wie geht es der Bevölkerung in der umkämpften Gegend eigentlich, jetzt, wo die Gefechte intensiviert wurden?
In zwei Dörfern östlich des Tigris und von Tikrit ist die Bevölkerung zurückgekehrt oder ist dabei, zurückzukehren. Das sind Mitglieder des Juburstammes, die sich auf die Seite der Regierung geschlagen haben und gegen den IS – und lange auch ohne Hilfe der Regierung Widerstand gegen den IS geleistet haben. Aus allen anderen Gegenden sind die Leute geflohen.
Das wird die nächste grosse Aufgabe der Regierung sein. Die schiitischen Milizen hindern die Bewohner nämlich auch daran, zurückzukehren. Denn jeder, der sich nicht gegen den IS erhoben hat, ist aus ihrer Sicht automatisch ein Unterstützer oder sogar ein Mitglied des IS. Das ist eine sehr heikle Sache. Denn man weiss ja auch, dass die schiitischen Milizen ihrerseits Verbrechen begangen haben. Deshalb wird jetzt in Tikrit – wenn die Stadt denn ganz eingenommen ist – die Regierung beweisen müssen, dass sie die Bevölkerung vor diesen Milizen beschützen kann. Wichtig ist auch, dass sie den Wiederaufbau möglichst schnell voranbringt, um dann auch die Sunniten für sie zu gewinnen.
Das Gespräch führte Miriam Knecht.