SRF News: Warum ist Kanada derart stark vom tiefen Erdölpreis betroffen?
Gerd Braune: Kanada verfügt vor allem über Ölsand, aus dem Schweröl gewonnen wird. Dieses Verfahren ist wesentlich teurer als die konventionelle Erdölförderung, bei der man ein Loch in den Boden bohrt und das Öl sprudelt. Entsprechend muss der Ölpreis eine bestimmte Höhe haben, damit die Gewinnung in Kanada überhaupt rentabel ist. Diese Grenze ist mit den derzeit knapp 30 Dollar pro Fass klar unterschritten. Noch kann in bestehenden kanadischen Feldern Öl gewonnen werden, doch neue Erschliessungen sind viel zu teuer. Die Folge: Die Investitionen werden zurückgefahren, neue Projekte auf Jahre hinaus verschoben.
Wie gross sind die Auswirkungen der schrumpfenden Ölindustrie auf die gesamte kanadische Wirtschaft?
Die sind beträchtlich. Allein im Bundesstaat Alberta sind infolge der Erdölpreis-Krise schätzungsweise bis zu 100'000 Arbeitsplätze gestrichen worden. So ist die Arbeitslosenquote von drei Prozent im letzten Jahr auf inzwischen sieben Prozent gestiegen. Ausserdem gehen dem Staat Steuereinnahmen und Förderabgaben verloren. Als Folge hat der kanadische gegenüber dem US-Dollar an Wert verloren. Damit werden alle Importe teurer, etwa Lebensmittel. Bereits wird das Schlagwort «Blumenkohl-Krise» herumgereicht, denn inzwischen kostet in Ottawa ein Blumenkohl sieben oder acht Dollar. Das Benzin ist zwar extrem billig, doch die Kanadier haben trotzdem massiv höhere Kosten, weil die Kaufkraft ihres Dollars sinkt.
Welche gesellschaftlichen Folgen haben der Stellenabbau und die wirtschaftlichen Schwierigkeiten für Kanada?
Aus Alberta wird davon berichtet, dass immer mehr Menschen bei den städtischen Essensausgabestellen anstehen, ausserdem gibt es Berichte von Suiziden aus Verzweiflung über den Verlust des Arbeitsplatzes oder weil Schulden und Hypotheken nicht mehr bedient werden können. Auch von höherer Kriminalität ist die Rede. Die Krisenstimmung habe ich auf einem Flug von Alberta zurück nach Ontario im letzten Jahr selber miterlebt: Früher herrschte auf diesen Flügen jeweils eine ausgelassene Stimmung, weil viele Männer an Bord nach Wochen der Arbeit auf einer Ölförderanlage in bester Stimmung für eine Woche zu ihren Familien nach Hause flogen. Diesmal war es im Flugzeug ganz still – einer der Männer sagte mir, er habe gerade seine Entlassungspapiere erhalten.
Ein Blumenkohl kostet in Ottawa inzwischen sieben oder acht Dollar.
Die frühere konservative Regierung hatte stark auf die Ölförderung gesetzt. Findet unter der aktuellen Regierung von Justin Trudeau nun ein Umdenken statt?
Tatsächlich ist das so. Die Regierung von Steven Harper hatte ihr Land als Energie-Supermacht präsentiert. Zuweilen war es schwer zu ertragen, mit welcher Überheblichkeit der Premier auftrat, wenn er Kanada anpries. Inzwischen ist Harper weg, der Niedergang der Ölindustrie war zugleich sein politischer Niedergang. Trudeau dagegen macht deutlich, dass Kanada mehr als Öl zu bieten hat. Allerdings muss für die Diversifizierung der Wirtschaft in dem Riesenland noch mehr getan werden als bisher. Schon im Wahlkampf hatte Trudeau versprochen, ein Haushaltsdefizit von zehn Milliarden Dollar in Kauf zu nehmen, um mit dem Geld die Wirtschaft anzukurbeln. Bereits raten Ökonomen aber dazu, dafür noch mehr Geld in die Hand zu nehmen. Das sind ganz neue Töne, die man aus Kanada hört.
Irgendwann wird der Ölpreis wieder steigen. Ist es nur eine Frage der Zeit, bis die Erdölförderung in Kanada, das auf riesigen Vorkommen sitzt, wieder boomt?
Tatsächlich dürfte sich der Ölpreis irgendwann wieder etwas erholen. Doch wer denkt, es würden schon sehr bald wieder Preise von 100 oder 130 Dollar pro Fass Öl bezahlt, ist naiv. Es gilt ja auch, den Klimawandel zu stoppen. Dazu gibt es die Beschlüsse vom Klimagipfel in Paris, die eine massive Reduktion des Ausstosses an Klimagasen aus fossiler Verbrennung vorsehen. Es braucht deshalb ein Umdenken, gerade auch in Kanada. So hat denn auch der Notenbank-Gouverneur am Mittwoch klargemacht, dass sich Kanada auf dem Weg des Übergangs befindet. Die Umstrukturierung der Wirtschaft müsse in Richtung jener Industrien vorangetrieben werden, die nichts mit der Energiegewinnung zu tun haben, sagte er.
Das Interview führte Marc Allemann.