Fast 300 Menschenleben hat das schwere Grubenunglück in der Türkei bislang gekostet. Die Rettungskräfte gehen nicht davon aus, noch Überlebende bergen zu können. «Wie viele Männer immer noch gefangen sind, weiss man nicht», sagt Iren Meier, SRF-Auslandredaktorin. Die Rede ist von rund 120 Arbeitern.
Man müsse annehmen, dass sich unter den Vermissten viele Schwarzarbeiter befinden, so Meier, zahlreiche davon gerade mal 15 Jahre alt. Die Mine Soma wird von einer privaten Holding betrieben. Offenbar beschäftigt diese Subunternehmen, die nicht kontrolliert werden.
Aus Protest gegen die Privatisierungspolitik hatte die grösste Gewerkschaft der Türkei zum Streik aufgerufen. Für Donnerstag wurden alle 240'000 Mitglieder der Gewerkschaft KESK aufgerufen, ihre Arbeit niederzulegen.
«Diejenigen, die Privatisierungen vorantreiben und zur Kostenreduzierung die Leben von Arbeitern aufs Spiel setzen, sind die Schuldigen des Massakers von Soma und müssen zur Rechenschaft gezogen werden», schrieb die KESK auf ihrer Website.
In Izmir demonstrieren rund 20'000 Demonstranten. Die Polizei setzte Tränengas ein. Bei den Zusammenstössen wurde der Vorsitzende der Gewerkschaft DISK laut der Nachrichtenagentur Dogan verletzt. Er befindet sich im Spital.
Zynische Bemerkungen
Für Empörung sorgten am Mittwoch Aussagen von Premierminister Recep Tayyip Erdogan. «Das ist etwas, was man in der Literatur Arbeitsunfall nennt», sagte er wörtlich. Er betrachte das Unglück als Schicksal, als den normalen Preis, den ein Bergmann bezahlen müsse in einer Industrie, die boome. Man könne die staatlichen Behörden nicht in die Pflicht nehmen, für Sicherheit zu sorgen.
SRF-Auslandredaktorin Meier: «Es offenbart einen erschreckenden Mangel an Mitgefühl, wenn ein Regierungschef so zynisch auf ein solches Unglück reagiert. Aber es ist nicht neu. Man konnte es auch schon bei anderen Gelegenheiten beobachten, als kürzlich ein junger Demonstrant an den Folgen der Polizeigewalt gestorben ist, hat er ganz ähnlich reagiert.»
Präsidentenwahl im Sommer
In mehreren Städten des Landes kam es am Mittwoch zu heftigen Protesten gegen die islamisch-konservative Regierung von Ministerpräsident Erdogan. In Istanbul gingen am Abend Tausende Menschen auf die Strassen. Sie forderten wegen des Unglücks in Sprechchören den Rücktritt der Regierung. Wie zuvor in der Hauptstadt Ankara versuchte die Polizei auch dort, den Protest gewaltsam zu zerschlagen.
Im Sommer möchte Erdogan als Staatschef gewählt werden. Das Grubenunglück setzt ihn nun zusätzlich unter Druck. Zumal Soma in einer Region liegt, wo der Premierminister sehr viele Anhänger hat.
Im Kohlebergwerk in Soma waren am Dienstag nach einer Explosion Hunderte Bergarbeiter unter Tage eingeschlossen worden. Tödliches Kohlenmonoxid behinderte die Rettungsarbeiten. Den Sicherheitskräften zufolge bildeten sich nach der Explosion im Bergwerk zwei Lufttaschen, von denen eine für die Rettungskräfte zugänglich, die zweite jedoch versperrt war.
Es ist das schwerste Grubenunglück in der Geschichte der Türkei. Die Regierung ordnete drei Tage Staatstrauer an. Ausländische Hilfe für die Bergung der Eingeschlossenen lehnte sie ab.