SRF News: Warum hat sich der Attentäter ausgerechnet Nizza ausgesucht?
Ronja Kempin: Das ist eine sehr schwierige Frage. Alle hatten damit gerechnet, dass der nächste Anschlag in oder um Paris stattfinden wird. An der gestrigen Parade haben die Behörden in der Hauptstadt zusätzliche 11'000 Soldaten aufgeboten, und das hat andere Städte verwundbarer gemacht. Dass Nizza als Ferienziel gilt, war wohl weniger ausschlaggebend, als dass sich da, wie in jeder Grossstadt, viele Menschen zum Nationalfeiertag zusammengefunden haben.
Hat der Geheimdienst versagt?
Diese Diskussion wird immer wieder geführt. Problematisch ist sicher, dass Frankreich zwar viele Geheimdienste hat, deren Koordination untereinander aber nicht gut funktioniert. Informationen werden nicht systematisch weitergegeben. Da entstehen unweigerlich Lücken, die fatale Auswirkungen für die Sicherheit im Land haben können.
Interessant dabei ist: Just Innenminister Cazeneuve – dem Präsident Hollande die Verantwortung im Kampf gegen den islamistischen Terror übertrug – hat es vor wenigen Tagen abgelehnt, die Geheimdienste zu reformieren und ihre Kooperation zu verbessern.
Der Attentäter hat einen LKW in eine tödliche Waffe verwandelt. Wie schätzen Sie diese Methodik ein?
Sollte sich herausstellen, dass der Anschlag islamistisch motiviert war, ist das höchst besorgniserregend. Dann hätten wir zum zweiten Mal innerhalb weniger Monate den Beweis dafür, dass Terroristen in der Lage sind, sehr schnell auf politische Entscheide zu reagieren. Der französische Präsident hatte ja angekündigt, dass er demnächst den Ausnahmezustand aufheben wolle. Die Terroristen würden dann zum Ausdruck bringen: ‹Ihr könnt den Ausnahmezustand aufheben oder nicht – ihr könnt uns nicht aufhalten.›
Wieder hat der Anschlag an einem symbolträchtigen Ort stattgefunden. Sollen die Menschen künftig, berühmte Plätze, Sehenswürdigkeiten und Veranstaltungen meiden?
Das lässt sich schwer so sagen. Die Massenveranstaltungen Europameisterschaft und Tour de France, bei denen man Anschläge befürchtet hat, sind beide reibungslos über die Bühne gegangen. Sicher sollte man sich überlegen, welche Anlässe man besucht. Und sicher sollten die Menschen wachsam sein. Aber den absoluten Schutz gibt es so oder so nicht.
Die internationalen Solidaritätsbekundungen wirken immer unglaubwürdiger, je mehr Terroranschläge es in Frankreich gibt.
Wie muss Frankreich jetzt reagieren?
Eine Hausaufgabe muss Frankreich selbst erledigen: die erwähnte Reform der Geheimdienste. Es reicht eben nicht aus, den Schuldigen ausserhalb zu suchen und die Sanktionen gegen Syrien und den Iran zu verstärken. Paris muss auch im Innern tätig werden.
Aber auch die europäischen Partner sind gefragt. In der EU hat Frankreich eine ganze Agenda gegen den Terror eingebracht. Doch einige europäische Staaten tun sich schwer damit, die Massnahmen umzusetzen. Dabei muss man schon sehen: Die internationalen Solidaritätsbekundungen wirken immer unglaubwürdiger, je mehr Terroranschläge es in Frankreich gibt.
Was können Sie zum Täter sagen?
Die Informationen sind noch sehr diffus. Wahrscheinlich hat der Täter allein agiert. Was ihn angetrieben hat, ist aber noch offen.
Welche Rolle spielen die Medien? Wie sollen sie berichten?
Auf der einen Seite kann man sagen, dass die Medien den Terroristen auf den Leim gehen – indem sie diesen mit einer ausführlichen und bilderreichen Berichterstattung eine Plattform bieten. Auf der anderen Seite könnte es eine Aufgabe der vierten Macht im Staat sein, die Rolle der Politik zu hinterfragen. Die Politiker mögen nun zum Schluss kommen, dass Frankreich wieder einmal versagt habe. Aber die Medien könnten demgegenüber aufzeigen, dass wir es mit einem internationalen Problem zu tun haben. Einem Problem, bei dessen Lösung Frankreich die Hilfe anderer Staaten braucht.
Das Gespräch führte Christine Spiess