Grosse Diskussionsrunde im Flüchtlingslager New Kuchingoro: Rund 20 Männer sitzen bei 35 Grad unter einem der wenigen Bäume auf dem Grundstück am Rande der nigerianischen Hauptstadt Abuja. Notdürftig zusammengezimmerte Hütten rundum. Muslime und Christen leben hier zusammen. Es eint sie ihre Flucht vor den Milizen von Boko Haram, die mit unfassbarer Grausamkeit grosse Teile im Nordosten Nigerias unter ihre Kontrolle gebracht haben.
Die Terroristen wollen aus Afrikas führender Wirtschaftsnation einen islamistischen Gottesstaat machen. «Sie haben mein Haus niedergebrannt. Ich bin über Kamerun geflohen und dann hierher in die Hauptstadt», erzählt Istafanus Yohanne, der 32-jährige Camp-Chef von New Kuchingoro.
Zweifel an Gründen der Wahlverschiebung
Insgesamt 1,5 Millionen Nord-Nigerianer sind auf der Flucht vor Boko Haram. Die meisten fliehen nach Kamerun oder in den Tschad. Nigerias Armee schaut scheinbar machtlos zu, wie die Terroristen morden, zerstören und entführen.
Am Wochenende wurden wegen der Sicherheitssituation im Nordosten die Präsidentschaftswahlen verschoben. Nigerias Armee behauptet, sie könne die Wähler am Wahltag nicht vor Attentaten von Boko Haram schützen. Ausserdem plane man eine Grossoffensive gegen die Terroristen. Dies sei nur ein Vorwand, kritisierte die Opposition. Die jetzige Regierung unter Goodluck Jonathan wolle Zeit schinden.
Überlebende von Baga berichten von Massakern
Die Kämpfer von Boko Haram seien gegen 19 Uhr aus allen Richtungen gekommen, erzählt der 32-jährige Zwiebelfarmer Mussa James, der gestern in New Kuchingoro eingetroffen ist. Er stammt aus Baga, der kleinen Stadt am Tschadsee, wo Boko Haram Anfang Januar angeblich ihr bisher grausamstes Attentat verübte.
Laut Mussa James drangen die Terroristen zu Fuss, auf Motorrädern und in Mannschaftswagen in den Ort ein. Auch einen Helikopter habe er gesehen: «Sie trugen Turbane. Das waren nicht nur Nigerianer. Viele Kämpfer kamen aus dem Tschad, Araber waren auch darunter.»
Zuerst sei die Kaserne angegriffen worden, erzählt Mussa James: «Dann haben sie wahllos auf Zivilisten geschossen. Überall lagen Leichen. Es waren 1000 Tote, vielleicht auch 2000. Ich weiss es nicht. Ich habe so viele gesehen.»
Nur wenige Flüchtlinge aus Baga haben es bisher in die Hauptstadt geschafft. Über den Angriff, der am 3. Januar begann sind bisher kaum Einzelheiten bekannt.
Auch Augustin John war dort. Der 22-Jährige ist völlig abgemagert von den Strapazen der Flucht: Er sei drei Tage durch den Wald gerannt, verfolgt von den Boko-Haram-Kämpfern: «Sie haben Menschen die Kehle durchgeschnitten, sie enthauptet. Man sieht die Leichen an sich vorbeifliegen. Hie und da erkennt man ein Kleidungsstück, eine Hose oder ein T-Shirt. Aber der Kopf fehlt, und man weiss nicht, ob man nun wirklich den Toten erkannt hat.»
«Soldaten warfen die Waffen weg und rannten in den Wald»
Die Reise nach Baga ist für Journalisten oder unabhängige Beobachter zu gefährlich. Der Nordosten Nigerias ist weitestgehend unter der Kontrolle der Milizen. Und so sind Augenzeugen wie Augustin John und Mussa James die einzige Informationsquelle.
Drei Stunden dauerte seiner Schilderung zufolge allein die Schlacht um die Kaserne von Baga: «Dann hörte ich Soldaten schreien und sah, wie sie ihre Waffen wegwarfen und in den Wald rannten. Da wussten wir, wir müssen so schnell wie möglich hinterher.»
Die Zuhörer in New Kuchingoro nicken. Eng aneinander gedrängt haben sie sich rund um Mussa James aufgebaut. Die meisten haben Ähnliches in ihren Dörfern erlebt: Überrannte unfähige Soldaten, die vor den wesentlich besser ausgerüsteten Boko-Haram-Kriegern die Flinte ins Korn werfen und Hals über Kopf fliehen.
Zahl der Deserteure steigt
Die Boko-Haram-Kämpfer seien mit modernsten Waffen ausgerüstet, bestätigt Femi Falana. Er ist ein prominenter Anwalt in Nigeria und verteidigt zahlreiche Soldaten, die der Meuterei und der Untreue angeklagt sind: «Unsere Soldaten bekommen Kalaschnikows und gerade einmal 60 Runden Munition».
Mindestens 70 Soldaten wurden in den vergangenen Monaten in Nigeria von Kriegsgerichten wegen Meuterei zum Tode verurteilt. Hunderten weiteren droht die unehrenhafte Entlassung.
Wenige haben den Mut, mit Journalisten offen über die Bedingungen in Nigerias Armee zu sprechen. Ihre Namen können nicht veröffentlicht werden, sonst drohen ihnen harte Strafen. Die Schilderungen sind jedoch erschreckend. Es gibt keine Funkgeräte in der Truppe, nicht genügend Munition, selbst Benzin ist knapp.
«Keiner holt dich da raus»
«Einmal, als wir gegen Boko Haram vorrückten, hatten wir nur für sechs Mannschaftswagen Benzin – sechs Wagen für ein Bataillon von 650 Mann. Jene, die nicht in die Wagen passten, mussten 30 Kilometer bis zur Front marschieren.»
Auch medizinische Versorgung gebe es nur selten, erzählt ein anderer: «Man kämpft und ist völlig auf sich allein gestellt. So viele meiner Kameraden sind wegen mangelnder Hilfeleistung gestorben. Keiner holt dich da raus.»
«Einsätze gegen Boko Haram sind Selbstmord-Missionen»
Gemäss Artikel 217 der Verfassung müsse die Landesregierung ihre Soldaten angemessen ausstatten, damit sie das Land verteidigen könnten, betont Anwalt Femi Falana. Die Einsätze gegen Boko Haram seien daher eigentliche «Selbstmord-Missionen».
Befehlshaber dieser Armee übten am Wochenende Druck auf die Wahlkommission Nigerias aus, die für den 14. Februar geplante Präsidentschaftswahl um sechs Wochen zu verschieben. Bis dahin hoffe man die Sicherheit im Nordosten Nigerias wieder hergestellt und Boko Haram besiegt zu haben.
Keiner sage die Wahrheit in dieser Armee, kritisiert ein anderer Soldat: «Ich mache das nicht mehr mit. Ich habe meinem Land gedient. Es ist Zeit, etwas anderes zu tun.»