Beim Anschlag in Paris deutet alles auf einen islamistischen Terrorakt hin. Wieso erfolgt das Attentat gerade jetzt?
Reinhard Schulze: Das hat sich in den letzten Wochen angekündigt. Da haben Vertreter des sogenannten Islamischen Staates im Irak die französischen Kämpfer in Frankreich aufgefordert, gegen französische Institutionen vorzugehen. Die Satirezeitschrift «Charlie Hebdo» stand schon seit drei Jahren im Brennpunkt der Kritik. Es verwundert nicht, dass gerade jetzt, wo sich die Wochenzeitung dem neuen Roman des französischen Skandal-Autors Michel Houellebecq widmete, die Terroristen zugeschlagen haben.
Weshalb können diese Mohammed-Karikaturen eigentlich derart provozieren?
Sie provozieren deshalb, weil es Nichtmuslime sind, die diese Karikaturen verfasst haben. Weil dann von muslimischer Seite aus eine anti-islamische Absicht hinter den Karikaturen vermutet wird. Es ist ja nicht so, dass in der islamischen Welt keine Karikaturen existierten, da werden auch religiöse Witze gemacht. In den 60er- und 70er-Jahren wurden zuhauf Karikaturen des Propheten Mohammed veröffentlicht. Das war eine Zeit, in der noch mehr liberale Diskussionen stattfanden.
Medienfreiheit und Meinungsäusserungsfreiheit sind im Westen wichtige Werte. Sind die Terrorakte auch Angriffe auf diese Werte?
Ich denke nicht, dass das ein strategischer Plan der Terroristen ist, die Meinungsfreiheit anzugreifen. Es ist aber ein Nebeneffekt, der mit diesen Angriffen erfolgt. Es wird für die muslimischen Gemeinden nun wichtiger werden, ebenfalls als Vertreter der Meinungsfreiheit aufzutreten. Das wird sicherlich ein Effekt der terroristischen Angriffe sein, die es seit 2005 gegeben hat.
Wenn man sich Chronologie der terroristischen Anschläge der vergangenen Jahre anschaut: Ist man überhaupt noch sicher, wenn man den Islam offen kritisiert?
Man ist sich sicher, wenn man ihn offen und fair kritisiert. Wenn man eine faire Kritik übt, die nicht auf Verunglimpfung beruht. Diese Kritik gibt es sowohl innerhalb der islamischen Welt, wo es genügend Menschen gibt, die den Islam kritisieren, als auch in der westlichen Welt. Das Gefährliche ist die bildhafte Kritik, die in den Karikaturen zum Ausdruck kommt.
Ist man da zu weit gegangen?
Da ist man zu weit gegangen, weil man damit eskaliert. Kritik sollte nicht zur Eskalation beitragen, sondern zu Aufklärung und Verständigung.
Müssen wir jetzt mit mehr Attentaten in Europa rechnen?
Ich denke, wir müssen leider damit rechnen. Weil es einsame Wölfe oder auch angeführte Terroristen in kleiner Zahl sicherlich in allen europäischen Staaten gibt. Sie werden zweifellos Gelegenheiten nutzen, Angriffe dieser Art durchzuführen. Ob sie dermassen spektakulär erfolgen können wie jetzt in Frankreich, bleibt natürlich dahingestellt.
Das Interview führte Mario Grossniklaus.