Freundliches Lächeln, jovialer Auftritt: an diplomatischem Taktgefühl mangelt es Ahmet Davutoglu wahrlich nicht. Und auch seine Rücktrittsankündigung garnierte er mit ausgesuchter Höflichkeit: «Seine Familienehre ist meine Familienehre. Seine Familie ist meine Familie». Gerichtet waren die Worte an Präsident Recep Tayyip Erdogan, der ihn, wie kolportiert wird, nach schwelendem Machtkampf abserviert hatte. Königsmörder sehen anders aus.
«Geradezu devot», findet das SRF-Auslandredaktorin Iren Meier. Sie sieht in dem duckmäuserischen Abgang des – theoretisch – mächtigsten Manns der Türkei eine vertane Chance, Kritik an Erdogans Allmachtsstreben zu üben: «Wir alle können zuschauen, wie Erdogan die parlamentarische Demokratie Schritt für Schritt zerlegt.»
Einstudiertes Unterwerfungsritual
Für alternativlos hält Cigdem Akyol das Unterwerfungsritual. Zumindest, wenn dem künftigen Parlamentsabgeordneten Davutoglu an seinem politischen Überleben gelegen sei, sagt die deutsch-türkische Journalistin. Beispiele dafür, wie kritische Stimmen in politischer Bedeutungslosigkeit versinken, gibt es zahlreiche. So etwa der ehemalige Staatspräsident Abdullah Gül, der sich mehrfach gegen seinen ehemaligen Parteifreund Erdogan aufgelehnt hat: «Er spielt politisch überhaupt keine Rolle mehr», so Akyol.
Davutoglus treuherzigem Abgang scheint also auch eine Prise Inszenierung anzuhaften. Denn schon länger soll es, wie Akyol schildert, Risse im Gefüge zwischen Präsident und Premier gegeben haben: «Bei etlichen Themen gab es erhebliche Meinungsverschiedenheiten: etwa der Verfolgung von Kritikern, insbesondere von Journalisten oder bei den bürgerkriegsähnlichen Zuständen im Südosten des Landes.»
Es brodelte schon länger
Bei Davutoglus jüngstem Besuch in Brüssel war davon freilich wenig zu spüren: Mit freundlichem Gesicht, aber unnachgiebigem Tonfall verteidigte er die Kurdenpolitik und Gängelung der freien Presse in der Türkei. Gleichwohl soll Präsident Erdogan das vermeintlich pro-europäische Gebaren Davutoglus zunehmend argwöhnisch beobachtet haben, berichtet Akyol. Schon seit Monaten hätten sich hartnäckig Gerüchte gehalten, wonach es an der AKP-Parteispitze brodle. «Die Gerüchte über einen Machtkampf zwischen Erdogan und Davutoglu haben sich nun schlichtweg bewahrheitet.»
Zum Bruch zwischen Förderer und Schützling trug offenbar der ausgeprägte politische Gestaltungswille des Premiers bei. Also dessen quasi verfassungsmässiger Auftrag: «Die Türkei ist seit Jahren eine ‹Ich-AG› von Präsident Recep Tayyip Erdogan.» Die faktische Absetzung Davutoglus sei denn auch nur der neueste Höhepunkt im bewährten Umgang mit Kritikern – und auf dem Weg zum Präsidialsystem, das Erdogan, wie er heute erneut bekräftigte, so schnell wie möglich Realität werden lassen will.
Das «uncharmante Schweigen» der EU
Damit würde der Schattenherrscher, wie Akyol ausführt, zum absoluten Alleinherrscher werden. Das Bild der Diktatur, das auch in deutschsprachigen Medien gezeichnet werde, hält sie jedoch für unzutreffend: «Die Türkei ist eine defizitäre Demokratie, mit einem Justizsystem, das ausgehebelt wurde und Medien, die nicht frei arbeiten können.» Kurz: Ein autokratisch geführtes Land.
Und eben dieses ist spätestens seit dem Flüchtlingspakt ein unverzichtbarer, strategischer Partner der EU. Sie muss sich fortan auf einen neuen Hauptansprechpartner einstellen, wie Akyol festhält: «Er ist der demokratisch gewählte Staatspräsident der Türkei. Die EU muss mit ihm verhandeln. Sie sollte aber auch den Finger in die Wunde legen.» Das traue sich die EU aber nicht. Und mit ihrem «uncharmanten Stillschweigen» trage sie indirekt zum latenten Demokratiedefizit bei: «Das stärkt ihn bei den heimischen Nationalisten.»
Wie Erdogan persönlich die gegenseitigen Abhängigkeiten einschätzt, wird immer klarer. Vor zwei Wochen liess er etwa verlauten: «Wir brauchen Europa nicht. Europa braucht uns.» Heute schlug der machtbewusste Präsident in die gleiche Kerbe: «Wir gehen unseren Weg, ihr euren» – und kippte Brüssels Forderung nach einer neuen Terrorgesetzgebung. «Das sind Aussagen, die für sich stehen», schliesst Akyol.