SRF News: Herr Räber, Sie haben Mitte September spontan Ihre Ferien verlängert, um in Griechenlands Hauptstadt Flüchtlinge zu versorgen. Hat Sie jetzt der Alltag wieder?
Michael Räber: Nein. Flüchtlinge auf dem Viktoriaplatz in Athen haben mir mit ihren Geschichten vor Augen geführt, dass derzeit auf Lesbos der Bedarf an Hilfe gross ist. Darum bin ich auf der Insel geblieben. Bald kehre ich in die Schweiz zurück, um am 13. Oktober mit vier Schweizer Ärzten wieder herzukommen. Diese Ärzte opfern genau wie ich ihre Ferien. Und gemeinsam wollen wir während 18 Tagen für die Flüchtlinge sorgen.
Kommen auf Lesbos nach wie vor täglich Boote an?
Gestern ist das islamische Opferfest zu Ende gegangen. Deshalb kommt in der Türkei die Flüchtlingsmaschinerie wieder in Gang, und nun kommen alle auf einmal. Allein heute sind 15 Boote auf der Insel angelangt. Bis am Abend rechnen wir, dass es 30 sein werden. Die Boote kommen scheinbar gar nicht von weit her. Ich kann von hier aus die türkische Küste sehen – als blickte ich über den Thunersee.
Wenn Sie bereits den zweiten Einsatz planen, um Wasser, Essen und Medizin zu verteilen – haben Sie auf die Schnelle einen Verein gegründet?
Ich betrachte mich nach wie vor als privat. Meine Frau stärkt mir von der Schweiz aus organisatorisch und unternehmerisch den Rücken. Durch den Bericht in der «Tagesschau» und das Echo in den sozialen Medien sind viele Menschen auf mich aufmerksam geworden, aus der Schweiz, Kandada, den Bahamas. Sie geben mir Geld, dass ich bis Ende Oktober helfen kann.
Macht Ihnen die plötzliche Verantwortung zu schaffen?
Durchaus. Ich gebe mir aber Mühe, sorgfältig zu entscheiden. Und dass ich Fehler mache, kann ich in der Situation, in der ich bin, nicht verhindern. Die Situation ändert sich nämlich schnell. Die Resultate meiner Arbeit haben mir bis jetzt allerdings Recht gegeben.
Dass ich Fehler mache, kann ich in der Situation, in der ich bin, nicht verhindern. Die Situation ändert sich nämlich schnell.
Wo helfen Sie genau?
Grundsätzlich helfe ich dort, wo Lücken bestehen. Zuerst mit Wasser, dann mit Medizin, dann mit Hygiene-Artikeln und schliesslich mit Nahrung. Ich leiste dann so lange Unterstützung, bis zunächst kleinere, dann grössere Hilfsunternehmen kommen und ich mich zurückziehen kann. Da, wo ich momentan bin, hat jetzt etwa das UNHCR seine Zelte aufgeschlagen. Weil es dafür etwas länger gebraucht hat, bin ich dem UNHCR zuvorgekommen. Ich kann ja sofort handeln.
Wie reagieren die Behörden auf Sie? Und wie die NGOs?
Die Ämter umgehe ich, damit ich effizient bleiben kann. Bei den NGOs treffe ich auf Skepsis. Diese äussert sich einmal mehr, einmal weniger aggressiv. Vielleicht führe ich ihnen vor, wie es besser ginge. Aber wie auch immer. Ich lasse mich davon nicht beeindrucken und mache mich deswegen nicht gleich davon. Im Gegenteil. Ich nehme mir Zeit für ein Gespräch und bemühe mich um ein gutes Verhältnis.
Sind Sie der einzige Private, der hilft?
Es gibt viele, die die Initiative ergreifen. Vor allem Griechen. Sie transportieren behinderte Flüchtlinge in ihrem Auto. Oder sie umarmen die ankommenden Menschen, was viel wert ist und nichts kostet. Was mich betrifft, hat es der Zufall so gewollt, dass der Wille, die Fähigkeit und die Mittel gerade zusammengekommen sind.
Sie haben in einem früheren Interview gesagt, dass Sie auf dem Viktoriaplatz keine Emotionen empfinden konnten, da Ihnen unter den Tausenden Flüchtlingen die Zeit dafür fehlte. Können sie es jetzt?
Ich tausche mich zwischendurch immer wieder mit anderen Helfern aus. Manchmal weine ich. Dann geht es wieder. Freud und Leid sind übrigens bisweilen ganz nah beieinander. Wenn die Boote ankommen, erlebe ich etwa viele Erwachsene sehr froh. Aber die Kinder sind in derselben Szenerie sehr verängstigt. Sie weinen, weil sie nicht wissen, was mit ihnen geschieht.
Sie haben Ihre Flitterwochen verlängert. Was werden Sie einmal Ihren Kindern erzählen, wie Sie die verbracht haben?
Das ist nicht ganz korrekt. Ich bin mit meiner Frau schon drei Jahre verheiratet. Wir haben also unsere Flitterwochen in Griechenland bloss wiederholt. Aber der Gedanke an meine Kinder, die ich einmal haben könnte, war für mich immer ein starkes Motiv. Und ist es noch. Wenn sie mich einmal fragen werden, was ich gemacht habe im Sommer 2015, kann ich sagen: Ich war auf der rechten Seite.
Es ist nicht zynisch gemeint, wenn ich das T-Shirt mit dem Schweizerkreuz trage.
Eine letzte Frage noch. Sie tragen vor der Kamera ein T-Shirt mit Schweizerkreuz und nennen ihre Website «Schwizerchrüz». Bringen Sie damit zum Ausdruck, dass Schweizer genuin solidarisch sind? Oder zeigen Sie im Gegenteil, wie es Schweizer machen könnten?
Ich bin Kompaniekommandant im Militär und habe überhaupt eine enge Bindung zur Schweiz. Mein Eindruck ist indes, dass es viele Schweizer gibt, die humanitäre Aktionen befürworten. Das ist der Teil der Schweiz, der aktuell zu wenig wahrgenommen wird. Insofern ist es nicht zynisch gemeint, wenn ich das rote T-Shirt trage. Es ist das, was ich wirklich damit sagen will.
Das Gespräch führte Christine Scherrer.