Die defensive Haltung gegenüber dem IS hat der Regierung Erdogan viel Kritik eingetragen – sowohl im eigenen Land, als auch von den internationalen Verbündeten. Vor allem die USA drängten die Türkei schon lange, endlich aktiver gegen die Terrormiliz vorzugehen. Nun scheint es, als würde die Türkei ihre zögerliche Haltung aufgeben. Heute früh vor Sonnenaufgang haben türkische Kampfflugzeuge Ziele im Norden Syriens beschossen.
SRF News: Ist das jetzt die Wende in der türkischen Strategie gegen die Terrormiliz IS?
Reinhard Baumgarten: Es ist zumindest eine ganz neue Qualität im Kampf gegen den IS. Es gab in den letzten Tagen schon Artilleriebeschuss und heute Morgen kam es in Istanbul zu Verhaftungen. 5000 Polizisten waren im Einsatz. 250 Leute sollen festgenommen worden sein. Dabei handelt es sich nicht nur um mutmassliche IS-Anhänger, sondern auch um Sympathisanten und Anhänger der kurdischen Arbeiterpartei PKK, die als Terrororganisation gilt.
Offenbar hat sich die Türkei auch mit den USA auf eine engere Zusammenarbeit im Kampf gegen die Terrormiliz geeinigt: Was wissen Sie darüber?
Das melden die türkischen Medien unisono und scheint wahrscheinlich. Das Ergebnis ist, dass die Militärbasis Incirlik im Süden der Türkei jetzt von den US-Streitkräften als Luftwaffenstützpunkt genutzt werden darf. Das ist insofern sehr wichtig, als dass diese Militärbasis nahe von Nordsyrien liegt. Das bietet der USA neue Möglichkeiten im Kampf gegen den IS.
Ist diese offensive Haltung der Türkei der Beginn eines türkischen Einmarsches in Syrien?
Soweit würde ich nicht gehen. Aber es laufen Vorbereitungen. Die Türkei hat schon in den vergangenen Wochen sehr starke militärische Kräfte an der syrischen Grenze, die fast 900 Kilometer lang ist, zusammengezogen. Das Ganze bekam nach dem Terroranschlag in der türkisch-kurdischen Stadt Suruç von Montag, bei dem 32 Menschen umgekommen und über 100 verletzt wurden, noch zusätzlichen Schwung. Diese Stadt liegt gegenüber von Kobane. Diese Stadt war monatelang umkämpft, letztendlich wurden die IS-Terroristen von der sogenannten YPG zurückgeschlagen. Das ist eine mit der PKK verbündete syrisch-kurdische Miliz. Das gefällt Ankara überhaupt nicht. Aber Terror auf dem eigenen Gebiet, das war wohl doch zu viel, um das Ganze ignorieren zu können.
Ich glaube, dieser Terroranschlag hat das Fass zum Überlaufen gebracht. Die Türkei sieht sich gezwungen, zu handeln.
Also ist dieser Anschlag der Hauptgrund, der zum Umdenken in der Türkei geführt hat?
Ich denke, dass das ein ganz wesentlicher Punkt war. Darüber hinaus natürlich aber auch die Operationen des IS über die Grenze Syriens hinweg. Ich meine damit nicht die Anschuldigungen der Kurden, dass IS Kämpfer in der Türkei behandelt und verarztet werden, oder dass die Türkei in den vergangenen paar Jahren massiv Hilfe geleistet hat bis hin zu Waffenlieferungen an die Terrormiliz. Aber ich glaube, dieser Terroranschlag hat das Fass für Ankara zum Überlaufen gebracht. Die Türkei sieht sich gezwungen, zu handeln.