Die Festnahme von HDP-Abgeordneten ist nur der jüngste Schritt in einem Prozess, den viele als Aushebeln von Demokratie und Rechtsstaat beschreiben. Anfang Woche haben die Behörden den Chefredaktor und mehrere Journalisten der regierungskritischen Zeitung «Cumhuriyet» festgenommen. Erneut wurden rund zehntausend Staatsangestellte entlassen.
«Extremely worried» («extrem besorgt») zeigte sich heute die EU-Aussenbeauftragte Federica Mogherini. Ins gleiche Horn stossen zahlreiche Parlamentarier der Union; es müsse alles unternommen werden, damit die verhafteten Oppositionspolitiker wieder freikommen.
Konkrete Massnahmen, um Druck auf die Türkei auszuüben, sind allerdings Mangelware – nicht nur seitens der EU, die traditionell enge Beziehungen zu Ankara pflegt. Auch das westliche Militärbündnis, die Nato, reagiert auffallend zurückhaltend auf das Gebaren ihres Bündnispartners.
Fredy Gsteiger, Sicherheitsexperte von SRF, und Oliver Washington, SRF-Korrespondent in Brüssel, ordnen das beredte Schweigen ein.
Realpolitische Erwägungen:
Oliver Washington: «Wenn es um Werte ginge, hätte die EU das Flüchtlingsabkommen nie abschliessen dürfen und die pro forma Beitrittsverhandlungen mit der Türkei längst beenden müssen. Das wäre wohl ehrlich – aber was würde das bewirken, fragt man sich in Brüssel. Aktuell sind wir so weit, dass die EU im Kontakt mit der Türkei nicht primär ihre eigenen Werte, sondern ihre Interessen verteidigt. Viele hier glauben, dass Erdogan ein Abbruch der Beitrittsverhandlungen schlicht egal wäre. Eine Aktion ohne Wirkung also, die noch dazu einen existierenden Kommunikationskanal kappen würde.»
Fredy Gsteiger: «Die Nato ist ein Verteidigungsbündnis – und eine Wertegemeinschaft: Sie riskiert ihre Glaubwürdigkeit, wenn sie die Türkei einfach gewähren lässt. Nimmt man die Nato-eigenen Massstäbe, müsste sie sich nun von ihrem Bündnispartner trennen. Auf der anderen Seite hat die Nato schon früher militärisch-pragmatische Erwägungen höher gewichtet: Die Türkei oder auch Griechenland waren schon Mitglieder, als dort Militärdiktaturen herrschten. Auch in diesem Fall gibt man militärischen Überlegungen grösseres Gewicht als politische Prinzipien.»
Türkische Drohpotenziale:
Oliver Washington: «Die EU ist zurückhaltend, weil sie abhängig ist von der Türkei. Exemplarisch zeigt sich das bei der Liberalisierung der Visa-Bestimmungen. Auch diese Debatte könnte die EU unter Verweis auf die aktuelle politische Entwicklung beenden. Das macht sie aber nicht, weil sie befürchtet, dass die Türkei das Flüchtlingsabkommen aufkündigt. Das möchte sie unbedingt verhindern. Wie die EU reagieren wird, wenn die Türkei ihre Drohung wahrmacht und die Zusammenarbeit in der Flüchtlingsfrage aufkündigt, ist aber schwierig zu beantworten.»
Fredy Gsteiger: «Wenn die Türkei aus dem Militärbündnis austreten oder herausgeworfen würde, hätte die Nato ein gewaltiges Problem. Die Südostflanke wäre völlig offen, es gäbe keinen Puffer mehr zum chaotischen Nahen Osten. Zudem wäre die Türkei nicht mehr ein freundschaftlich verbundenes Land an der Nato-Grenze, wie etwa Schweden oder die Schweiz. Sie würde dann zu einem Gegner. Die Sorgen bei der Nato verstärken sich auch, weil die Türkei wieder eine Annäherung an Russland sucht – für die Nato ist es ein gewaltiger Affront. Die Türkei nutzt offenkundig Russland als Hebel, um mehr Einfluss zu haben – und der Nato zu signalisieren: Wenn ihr uns kritisiert, haben wir auch eine Alternative.»