Schon der Name der Ukraine ist Programm. Er kommt vom altostslawischen Wort ukraina und bedeutet «Grenzgebiet». Gemeint war das Land zwischen Kiew und dem Schwarzen Meer im 6. Jahrhundert, in dem slawische Fürstentümern gegen Nomaden um die Vorherrschaft kämpften.
Die Ukraine ist Grenzgebiet geblieben, zerrissen zwischen der EU und Russland. Das Land am Schwarzen Meer, 15 Mal so gross wie die Schweiz, kämpfte schon immer um Eigenständigkeit: Im 18. Jahrhundert wurde die Ukraine zwischen Russland und Österreich-Ungarn geteilt. Später war sie Teil der Sowjetrepublik, während des zweiten Weltkriegs kam sie kurz unter deutsche Verwaltung. Ab 1991 erlangte sie schliesslich ihre staatliche Unabhängigkeit.
Russland blieb massgebend
Doch unabhängig war das Land nie wirklich, während der Westen der Ukraine schon immer mit Europa liebäugelte, blieb das Land letztlich doch am Rockzipfel Russlands hängen. Nicht nur wegen der gemeinsamen Geschichte, der gemeinsamen Kultur, auch wirtschaftlich. Namentlich beim Gas, das vor allem aus Russland kommt.
Die Ukraine hat den höchsten Energieverbrauch Europas. Die Metall- und Stahlindustrie im Osten ist riesig, ein Überbleibsel aus der Sowjetunion, welche die meisten Rüstungsgüter in der damaligen Teilrepublik Ukraine produziert hatte.
Der Handel mit dem grossen Nachbarn riss seit der Loslösung nie ab. Russland ist mit Abstand der wichtigste Handelspartner. Ein Drittel der Importe stammt aus dem Nachbarland, ein Viertel der Exporte gehen dorthin. Dem gegenüber steht der Handel mit der EU: Rund ein Drittel der ukrainischen Exporte fliesst in die Union.
Die Macht der Oligarchen
Niemand in der Ukraine weiss dies besser als die Oligarchen. Sie kontrollieren nicht bloss die Wirtschaft, sondern dirigieren auch die Politiker. Parlamentssprecher Volodymyr Lytvyn sagte einmal: «Für das Wohlergehen der Menschen ist es besser, ihnen nicht zu erzählen, wie in der Ukraine Politik gemacht wird. So ähnlich, wie man nicht erzählen sollte, wie in der Ukraine Wurst hergestellt wird.»
Die dünne Oligarchenschicht kauft sich Gerichtsurteile genauso wie Journalisten, Politiker und Beamte. Was der Bevölkerung nicht zu Gute kommt. Laut der Nonprofit-Organisation Irex können etwa fünf Prozent der Mittelschicht zugerechnet werden, 77 Prozent der Bevölkerung lebt unter der Armutsgrenze.
Diese Bevölkerung ist es schliesslich, die noch immer auf dem Maidanplatz ausharrt. Es ist jene Hälfte des Landes, die für die Moderne steht, für unabhängige Richter, unabhängige Politiker, unabhängige Journalisten. Der andere Teil, vorwiegend im Osten des Landes, schweigt mehrheitlich. Die Anbindung an Russland ist hier stärker: Die Menschen im Osten sprechen nicht nur russisch, vielen geht es auch etwas besser als den Menschen im Westen – weil hier ein reger Güteraustausch mit Russland stattfindet.
Spaltung wenig wahrscheinlich
«Die Menschen im Osten hassen die herrschende Klasse genauso», sagte der Autor und Psychoanalytiker Jurko Prohasko im «Echo der Zeit». Sie würden aber viel länger abwarten als die Menschen im Osten, bis sie ihren Protest nach aussen tragen würden, so Prohasko.
Die EU und der Internationale Währungsfonds (IWF) stehen für ein besseres Leben. Nur wenn das Land zu Reformen bereit ist, wird Geld fliessen, werden Abkommen zustande kommen. Für eine neu gewählte Regierung würde allerdings die Durchsetzung der Forderungen des IWF – so wie sie heute dastehen – Selbstmord bedeuten. Auch die Oligarchen sind von sich auch aus nicht an Reformen interessiert. Schliesslich haben sie es sich bequem eingerichtet.
Allerdings dürften die Oligarchen kaum ein Interesse an weiteren Unruhen oder gar einer Spaltung des Landes haben. Der reichste Mann der Ukraine, Rinat Achmetow, nahm auf der Homepage seines Konzerns «Metinvest» Stellung: «Die Wirtschaft kann nicht schweigen, wenn Menschen getötet werden. Das ist eine echte Gefahr für eine Spaltung des Landes, wenn eine politische Krise das Land in eine politische Rezession führt und das Ergebnis ein geringerer Lebensstandard für die Menschen ist …»
Das Land muss sich entscheiden
Die Oligarchen wollen primär Geschäfte machen. Und: Sie wollen weder die Sanktionen Moskaus noch den Verlust der europäischen Märkte. Weitermachen wie bisher können sie aber nicht, zu gross ist der Druck der Strasse.
Das Land muss sich entscheiden, zwischen der EU und Russland, das einen eurasischen Wirtschaftsraum gründen will. Beiden Wirtschaftsräumen können die Ukrainer nicht angeschlossen sein.