Das Schicksal des Nachbarn und historischen Schicksalsgenossen Ukraine beschäftigt den polnischen EU-Parlamentarier Pawel Zalewski seit Jahrzehnten. Doch was jetzt geschieht, hält er für ein Drama. Präsident Viktor Janukowitsch habe viele Fehler gemacht im Vorfeld des EU-Gipfels von Vilnius. Vor allem aber einen: Er habe der EU nicht gesagt, was er brauche.
Janukowitsch braucht dringend Geld. Im Haushalt klafft ein Loch von ungefähr 15 Milliarden Euro. Eine grosse Summe, räumt Zalewski ein. Aber nichts im Vergleich zu dem, was für die Krisenländer in Südeuropa ausgegeben worden sei.
Zalewski: Nur Peitsche reicht nicht
Die finanzielle Lage habe sich noch verschlimmert, denn Russland piesacke die Ukraine mit Sanktionen, weil sich Janukowitsch mit der EU einlassen wolle. Mit diesem Druck könne Janukowitsch das EU-Angebot nicht annehmen, stellt Zalewski fest und bedauert: «Wir zeigten ihm nur die Peitsche, aber kein Zuckerbrot.»
Tatsächlich sehen die Abkommen kein zusätzliches Geld für die Ukraine vor, sondern Vorschriften: So soll das Land in zehn Jahren einen Grossteil des EU-Rechts übernehmen. Im Gegenzug soll es freien Zugang zum Binnenmarkt und weitestgehenden Freihandel mit der EU erhalten. Dies wird der Ukraine nach Einschätzung von Brüssel langfristig viel Wohlstand bringen.
«Inakzeptables Verhalten der EU»
Aber was nützt dem Land eine Langfristperspektive, wenn kurzfristig der Ruin droht, auch wegen der russischen Sanktionen? Hier fängt für den Polen die Verantwortung der Europäer an: Denn die russischen Sanktionen hätten nicht nur der Ukraine gegolten, sondern auch der EU, betont er.
Dass die EU nicht reagiert, hält er für inakzeptabel. Seines Erachtens müsste die EU nun mit Geld antworten und den Schaden der russischen Sanktionen für die Ukraine übernehmen.
Emerson: Zahlen ja, aber Scheckbuch im Griff behalten
Für finanzielle Hilfe der EU an die Ukraine plädiert auch der britische Politologe Michael Emerson vom Brüsseler Think Tank Ceps. Brüssel unterschätze den Aufwand der Ukraine, sich an die Wirtschaft der EU anzupassen: «Man kann dem Abkommen vorwerfen, dass es die Ukraine überfordert. Denn es macht die Bande des wirtschaftlich und politisch rückständigen Landes mit der EU fast so eng wie jene der Schweiz oder des EWR-Mitgliedes Norwegen.»
«Bezahlen», sagt also auch Emerson. Aber nur für die Anpassungskosten und nicht für alle Schäden, die das Land wegen Russland erleidet. Man müsse das Scheckbuch im Griff behalten.
Überdies ist Emerson der Meinung, dass sich die EU mit dem Verhalten Russlands auseinandersetzen muss. Aber nicht, indem sie Staaten zwischen ihr und Russland loskaufe, sondern indem sie auf Moskau zugehe.
Ein Freihandelsabkommen mit Russland?
Und zwar nach dem Motto: «Lieber Herr Putin. Sie haben einmal von einem Europa von Lissabon bis Wladiwostok gesprochen. Gute Idee. Fangen wir doch mit den Verhandlungen über ein Freihandelsabkommen zwischen der EU und Russland an.»
Ein solches Gespräch sei nicht heute oder morgen möglich, aber vielleicht schon Anfang nächstes Jahr, merkt der britische Politologe an. Letzlich sei dies auch für Russland attraktiv, denn dessen Politik der Abschottung und der Handelssanktionen sei völlig überholt. Und der Versuch, Nachbarn in eine Zollunion zu zwingen, sei langfristig zum Scheitern verurteilt: «Mit Freihandel aber gewinnen alle. Die EU, Russland und alle Staaten dazwischen wie die Ukraine.»