Zehntausende Menschen, die regenbogenfarbene «Pace»-Fahnen und Plakate gegen den Krieg schwenken: Dieses Bild prägte die Strassen in den grossen Schweizer Städten. Dies bereits Wochen bevor die USA im Irak einmarschierten. Zwei Tage nach Kriegsbeginn, am 22. März 2003, wurden allein in Bern rund 50'000 Demonstranten gezählt.
Selbst die Organisatoren waren vom Ausmass der Proteste überrascht. Da trugen Menschen Transparente durch die Strassen mit Aufschriften wie: «Stoppt den Krieg», «Der grösste Terrorist ist der Weltpolizist» oder «BBB: Bush, Blair, Berlusconi – die Achse der Blöden». Einige schwenkten gar Brezeln und erinnerten damit an George Bush Junior, der im Januar 2002 fast an einem solchen Stück Gebäck erstickt wäre. Der Fantasie waren keine Grenzen gesetzt. Die Proteste ebbten während Monaten nicht ab.
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Der «ungerechte Krieg»
Wie lässt sich die Mobilisierung der Massen erklären? Politologen führten damals Faktoren wie soziale Unsicherheit, die Situation auf den Finanzmärkten und eine generelle Angst vor einer instabilen Welt ins Feld. Doch das waren eher vorschnelle Mutmassungen als fundierte Erkenntnisse. Denn: gerade die Schweiz war noch nicht von der Finanzkrise betroffen und offensichtlich auch nicht in den Krieg involviert.
Eine Erklärung für die Massenbewegung liefert eine Forschungsarbeit von Michelle Beyeler. Die Berner Politologin hatte sich im Februar 2003 an einer international koordinierten Befragung von Demonstranten beteiligt. «Die Menschen protestierten gegen eine in ihren Augen schreiende Ungerechtigkeit», sagt sie.
Heute steht fest, dass die USA und Grossbritannien mit ihrer Intervention das Völkerrecht verletzten. Zudem entpuppten sich die beiden wichtigsten Kriegsgründe als Chimäre. Weder wurden im Irak Massenvernichtungswaffen entdeckt, noch kooperierte Saddam Hussein mit der Al-Kaida.
«Die offensichtliche Aggressionspolitik unter einem scheinheiligen Vorwand hat viele Leute erzürnt», vermutet Nico Lutz, damals Sekretär der Gruppe Schweiz ohne Armee (GSoA). Er organisierte damals im ganzen Land Protestkundgebungen. Viele hätten vor allem wirtschaftliche Motive hinter dem Angriff erkannt, namentlich das Ölgeschäft.
«Krieg ist nicht gleich Krieg»
Und wer ging damals auf die Strasse? «Die Proteste waren breit abgestützt», stellt Beyeler fest. Die Demonstrationen seien jedoch eher von gut gebildeten, jungen, linken und christlichen Teilnehmern dominiert worden. Globalisierungskritische Gruppen nutzten zudem die Gunst der Stunde, neue Aktivisten zu rekrutieren.
Doch warum gingen so viele auf die Strasse? Zum Vergleich: Die Interventionen in Libyen gegen Gaddafi und in Mali gegen die Islamisten haben keine Proteststürme ausgelöst, obwohl es auch hier um handfeste wirtschaftliche Interessen ging. Für Beyeler ist klar: «Krieg ist nicht gleich Krieg.» Die jüngsten Militäroperationen seien als «humanitäre Interventionen» begriffen worden – als Hilfe für die Bevölkerung gegen einen Aggressor. «Zusätzlich stand im Falle von Mali und Libyen die internationale Gemeinschaft in grossen Teilen hinter den Interventionen. Im Gegensatz zum Irak-Krieg.»
Auswirkungen auf die Jugend
Eine Frage bleibt: Was haben die Proteste bewirkt? Aus Sicht von Michelle Beyeler wollten die Demonstranten gerade den Bundesrat zu einer klaren Haltung bewegen. Der damalige Bundespräsident Pascal Couchepin hatte den Krieg damals nicht dezidiert verurteilt. Die Forderungen der Demonstranten hätten sich eher mit der Aussenpolitik von Micheline Calmy-Rey gedeckt. Die Aussenministerin sollte später für ihre Haltung im Irak-Krieg durch die aussenpolitischen Kommissionen der Räte gerügt werden.
In den Augen des ehemaligen GSoA-Aktivisten Nico Lutz haben die Proteste auf politischer Ebene bewirkt, dass die Beteiligung der Schweizer Armee an Nato-Interventionen vom Tisch war. «Auslandsabenteuer» der Schweizer Armee seien von da an kein Thema mehr gewesen.
Lutz nennt einen weiteren Effekt: «Die Massenproteste haben sich auf die Politisierung einer ganzen Generation ausgewirkt.» An den Demonstrationen seien ungewöhnlich viele junge Leute, auch Schüler beteiligt gewesen. «Damit endete auch die Debatte über die angeblich unpolitische Jugend.»