Ohne Treppensteigen kommt man in der Favela Santa Marta nicht weit. Von ganz unten bis ganz oben am Steilhang im Stadtteil Botafogo sind es 788 Stufen. Auf dem Weg ist es so eng, dass zwei Menschen kaum aneinander vorbeikommen; man ist sich gezwungenermassen nahe.
Und die meisten Leute erzählen bereitwillig, wenn man sie nach ihren Eindrücken zu den Olympischen Spielen fragt.
Die Spiele werden ein noch grösseres Loch in die Staatskasse reissen.
Rentner Severino ist pessimistisch. An der Stehbar in einer Ausbuchtung des beschwerlichen Treppenstiegs schlürft er einen Kaffee: «Die Spiele werden ein noch viel grösseres Loch in die Staatskasse reissen», prognostiziert er: «Statt etwas vom olympischen Fest zu haben, werden wir kleinen Leute dann geradestehen müssen dafür – und höhere Steuern bezahlen müssen.»
Ich finde es wunderbar – und auch die Allgemeinheit profitiert.
Ziemlich weit oben in der Favela steht Salete Martins an der Aussichtsplattform. Von hier aus hat man einen tollen Blick auf die schicken Viertel Lagoa, Leblon und einen Teil der Copacabana. Salete ist die geborene Optimistin: «Rio ist bereit, ich fiebere den Spielen entgegen und hoffe, dass möglichst viele Besucher kommen.»
Im Hinblick auf Olympia sei so vieles besser geworden, von dem auch die Allgemeinheit profitiere: In der Innenstadt fahre jetzt ein Tram, in der Hafenzone gebe es eine neue, drei Kilometer lange Fussgänger- und Festmeile. «Ich finde es wunderbar», schliesst Salete.
Die einzigen, die profitieren, sind die Politiker und die Unternehmer – wie schon bei der WM.
Keinen Steinwurf von der Aussichtsplattform entfernt werkelt Adalberto Rocha an seinem unverputzen Häuschen. Der bullige Mann zeigt sich als sehr politischer Mensch. Er sieht die Olympischen Spiele im Spiegel der Wirtschaftskrise, die ihn seine Stelle als Handwerker gekostet hat: «Es ist doch wieder so wie bei den Fussballweltmeisterschaften vor zwei Jahren. Die einzigen, die profitieren, sind die Politiker und die Unternehmer. Weil sie sich am Bau der Stadien und Wettkampfarenen illegal bereichern.»
Ganz falsch liegt der Maurer Adalberto nicht. Die kaum neun Jahre alte und für die panamerikanischen Spiele in Rio errichtete Infrastruktur wird für die olympischen Spiele gar nicht benutzt. Es wurde alles neu gebaut. Und das weckt Misstrauen unter den Brasilianerinnen und Brasilianern.