Die Journalistin Petra Ramsauer konnte das Lager al-Hol in Nordsyrien besuchen. Dort leben 70'000 IS-Anhänger, vor allem Frauen mit ihren Kindern. Ramsauer berichtet von schlimmen Zuständen – und davon, wie IS-Anhängerinnen ihre Kinder zu künftigen islamistischen Terroristen heranziehen.
SRF News: Was war Ihr erster Eindruck vom Lager al-Hol in der Region von al-Hasaka in Nordsyrien?
Petra Ramsauer: Es ist unvorstellbar heiss. Die Temperaturen in der Wüstengegend betragen bis zu 45 Grad. Entsprechend gross ist der Druck auf die Logistik-, Wasser- und Gesundheitsversorgung der mehr als 70'000 Bewohnerinnen und Bewohner des Lagers.
Sie waren auch im so genannten Annex des Lagers, in dem 11'400 ausländische IS-Anhängerinnen mit ihren Kindern leben. Der Teil ist eingezäunt und wird von bewaffneten Kurdinnen bewacht. Was haben Sie dort gesehen?
Es war gerade Essensverteilung: Einmal pro Woche wird den Frauen Reis, Zucker, Speiseöl und ein bisschen Brot verteilt – sie erhalten nur das Allernotwendigste, den Rest müssen sie kaufen. Entsprechend hektisch war die Situation. Weil ich eine Kamera in der Hand hielt, ging eine Frau auf mich los.
Die Kinder befinden sich in einer Ambivalenz zwischen der alten IS-Ideologie und dem Erahnen, dass es auch eine ganz andere Welt gibt.
Ansprechen konnte ich die Frauen ohne Probleme, denn viele von ihnen stammen aus Frankreich, Deutschland oder Skandinavien. Doch die Gesprächsbereitschaft war gering: Ein Teil der Frauen wollte mit jemandem wie mir – einer Ungläubigen – nicht sprechen, der andere Teil der Frauen fühlte sich merklich von ersteren unter Druck gesetzt. Sie wagten gar nicht, mich anzusehen. Einfacher war der Kontakt mit Kindern. Sie begegneten mir mit einer für Kinder üblichen Neugier und Faszination – schwenkten plötzlich aber um in die klassische IS-Ideologie und beschimpften mich. Ich spürte sehr deutlich die Ambivalenz, in der sie sich befinden: zwischen der alten IS-Ideologie und dem Erahnen, dass es auch eine ganz andere Welt gibt.
Sie haben im geschützten Container dann doch mit fünf Frauen ein längeres Gespräch geführt. Was haben Sie erfahren?
Eine Deutsche und eine Österreicherin haben mir erzählt, dass sie sich von anderen Frauen massiv unter Druck gesetzt fühlen und in Todesangst leben. Im Annex-Bereich gebe es ein Klüngel an schwer indoktrinierten IS-Verfechterinnen, welche die Ideologie auf Biegen und Brechen weiterführen. Sie haben eine regelrechte Religionspolizei aufgebaut. Die Aussagen sind sehr glaubwürdig und sollten ernst genommen werden.
Besonders radikalisierte Frauen erziehen ihre Kinder zu einer neuen Terrorgeneration.
Es besteht die Gefahr, dass Frauen, die bereit sind, gegen den IS auszusagen, im Lager re-radikalisiert werden. Ein syrischer Journalist bestätigte mir später, dass es im Lager extrem radikalisierte Frauen gibt, die ihre Kinder zu einer neuen Terrorgeneration erziehen. Das sind laut Kennern keine Einzelfälle, sondern ist Teil einer grossen Indoktrinierung.
Wie kann die schlimme Situation von schlechten Lebensbedingungen, Unsicherheit und Radikalisierung gelöst werden?
Die Frauen brauchen ordentliche Gerichtsverfahren. Es kann nicht sein, dass sie einfach in diesem Lager zurückgelassen werden, um sich weiter zu radikalisieren. So werden sie und ihre Kinder langfristig zu einem grossen Terrorproblem für Europa. Die Länder des Westens sollten sich jetzt darum kümmern, ihre Staatsbürgerinnen und die Kinder zurückzuholen und die Frauen gezielt vor Gericht zu stellen. Nur so lässt sich herausfinden, ob sie eine Gefahr darstellen und welche Deradikalisierungsmassnahmen notwendig sind.
Das Gespräch führte Antonia Moser.