Lange hing in Island buchstäblich alles ab vom frischen Fisch, dann wurden mit günstiger Energie riesige Aluschmelzwerke gebaut, schliesslich trampelten Touristenmillionen die heikle Natur des Landes nieder. Doch dann kam es zum grossen Einbruch: von der Finanzkrise über die Politrevolution bis hin zur Pandemie.
Husavik ist ein kleines Fischerdorf weit oben im Nordosten Islands, neun Autostunden von der Hauptstadt Reykjavik entfernt. Hier leben gut 2000 Menschen. Derzeit sind sie fast nur unter sich. Denn seit Beginn der Pandemie glänzen die Touristinnen und Touristen, die auf ihrer Reise rund um die Insel gerne in Husavik einen Halt einlegen, mit ihrer Abwesenheit.
Und auch mit der Waljagd und dem Fischfang, den traditionellen Wirtschaftszweigen dieses abgelegenen Ortes, ist es in den letzten Jahren nur bergab gegangen. Lokale Fischfangquoten wurden an andere Teile des Landes vergeben, der Walfang ist – so hat die Regierung in Reykjavik kürzlich entschieden – ab 2024 definitiv verboten.
Aus Walfangkutter werden Ökoausflugsdampfer
Die Bewohnerinnen und Bewohner machen sich trotz dieser schwierigen Entwicklungen aber wenig Sorgen. Sie sind bereits daran, sich, Husavik und ganz Island neu zu erfinden.
Zu den innovativen Erneuerern gehört Heimir Hardarsson. Der Sohn einer Fischerfamilie aus Husavik, der mit seiner leicht ergrauten Haarmähne und dem dichten Bart genau so aussieht, wie man sich einen isländischen Fischer vorstellt, hat in den letzten Jahren zahlreiche ausgediente Walfangkutter aufgekauft und zu Ausflugsschiffen für die familieneigene Reederei Northsailing umfunktioniert.
«Wir rüsten hier in unserer Werft die alten benzinbetriebenen Walfangkutter mit Elektrozellen und Segel aus», erzählt Heimir. Unterdessen hat er über 15 Schiffe, mit denen er neben Walbeobachtungsfahrten auch längere Arktis-Expeditionen nach Grönland und Spitzbergen anbietet.
Fischhäute als Lebensretter
Gleich neben der Schiffswerft von Heimir Hardarsson legen auch an diesem Tag Trawler der lokalen Fischfabrik GBP Seafood an. Im örtlichen Hafenbüro werden die Dorschfänge gewogen und zur Auktion freigegeben. Das Geschäft mit frischem Fisch ist wegen des isländischen Quotensystems unsicher geworden. Fangquoten können über Nacht in einen anderen Teil des Landes verschoben werden. Um zusätzliches Einkommen zu generieren, hat GBP Seafood begonnen, die Dorschköpfe, welche früher einfach weggeworfen wurden, als Delikatessen nach Nigeria zu exportieren.
Noch einen Schritt weiter geht Gudmundur Fertram Sigurjonsson. Und das mit tatkräftiger Unterstützung der isländischen Regierung: «Nach der grossen Finanzkrise von 2008 las ich überall die Anzeigen der Regierung, die Geld für innovative Industrieentwicklungen versprach», erzählt Gudmundur und fügt hinzu: «In Island spielt der Fisch eine grosse Rolle. Ich überlegte mir deshalb, ob wir mit der Fischhaut, die normalerweise weggeworfen wird, etwas Gescheites anstellen können», berichtet der Gründer und heutige CEO von Kerecis.
Die Firma stellt aus Fischhäuten Wundpflaster her, die reich an Omega3-Fettsäuren sind. Mit mehreren hundert Mitarbeitenden nicht nur in Island, sondern auch den USA und in der Schweiz ist Gudmundurs Firma heute Marktführerin in der medizinischen Nutzung von Fischhaut, die nun immer wieder – etwa bei Verbrennungen und Diabetesfolgen – Leben retten kann.
Heisses Mineralwasser und Hollywoodstars
Der Reichtum der Menschen von Husavik und Islands ist aber nicht nur im Meer vor der Küste zu finden, sondern auch direkt im Boden: Dort, an der hier sehr dünnen Erdkruste, gibt es viel geothermische Energie.
Über ein Bohrloch wird heisses Mineralwasser an die Oberfläche gepumpt, wie Arman Örn Gunnlaugsson in der neu eröffneten Geosea-Badeanlage gleich ausserhalb des Dorfkerns von Husavik berichtet: «Wir mischen das heisse Süsswasser in unserer Anlage mit kaltem Salzwasser und schaffen damit ein ganz besonderes Badeerlebnis», betont Arman, der nach dem Schulabschluss in Husavik und Studien in den USA auch in der Schweiz gelebt hat.
Die Co2-freie Geosea-Anlage besteht aus mehreren Bassins im Freien für höchstens 150 Personen und ist ein Beispiel dafür, wie sich lokale Bedürfnisse nachhaltig mit Touristeninteressen verbinden lassen.
Gegenwärtig finden nur wenige ausländische Besucher den Weg ins ferne Nordostisland. Das soll sich aber bald ändern. Nicht nur, weil die pandemische Situation das Reisen wieder ermöglicht. Sondern auch wegen eines Hollywood-Films: «Eurovision Song Contest – The Fire Saga» des amerikanischen Regisseurs Will Ferrell handelt von einer wenig erfolgreichen Band aus Husavik, die für Island am Eurovision Song Contest teilnimmt. Die Komödie mit Rachel McAdams und Pierce Brosnan in den Titelrollen hat international einige Aufmerksamkeit erzeugt, die die Husavikerinnen und Husaviker natürlich nutzen möchten. Zum Beispiel der lokale Hotelier Orly Orlysson, der mit den vom Produktionsteam des Filmes zurückgelassenen Requisiten im Zentrum von Husavik die Jaja-Dingdong-Bar eröffnet hat. Benannt nach einem anderen Lied aus dem Streifen.
Der Besuch im abgelegenen Husavik macht deutlich, mit welcher Zuversicht und welchem Ideenreichtum Island auch nach schweren Zeiten immer wieder einen Weg findet.
Weit draussen im stürmischen Meer auf einer baumlosen Halbinsel vor Reykjavik liegt der Amtssitz des isländischen Präsidenten, Bessastadir. Es ist nicht ganz einfach, den richtigen Eingang zu finden, doch dann begrüsst die Haushälterin des Staatschefs den Besucher in der Eingangshalle, in der es in der Nacht wegen eines undichten Fensters hereingeregnet hat.
Gudni Thorlacius Johannesson, der sechste Staatschef des seit 1944 unabhängigen Islands, empfängt den Gast in der Privatbibliothek von Bessastadir, einem Ort mit viel Geschichte. Der 53-jährige Präsident, der bis zu seiner ersten Wahl vor fünf Jahren als Geschichtsprofessor an der Universität Reykjavik lehrte, freut sich in Bessastadir nicht nur über die reichhaltige Literatur, sondern auch die grandiose Natur.
Er und sein Volk können Ruhe und Gelassenheit gut brauchen. Island hat in den letzten 15 Jahren viele Krisen durchlebt: 2008 brach das Finanzsystem des Landes zusammen, eine Revolution der Strasse vertrieb die politische Elite, es folgte der massive Ausbruch des Eyjafjallajökull-Vulkans, der den Flugverkehr in weiten Teilen Europas lahmlegte.
Und damit nicht genug: Mitte der Zehnerjahre verstrickte sich die isländische Regierung in die Wirren der Panama-Papers, der damalige Ministerpräsident hatte sein Vermögen in Offshore-Steuerparadiesen angelegt. Und nun brachte die Pandemie den zuvor stetig anwachsenden Strom der Touristinnen und Touristen auf die Nordatlantikinsel praktisch zum Erliegen.
Geschickte gespielte Karten
Sprachlos machen diese Krisen Island und ihren Präsidenten jedoch nicht: «Jeder Tag bringt neue Schwierigkeiten, deshalb ist es sinnvoll, auch jeden Tag von Neuem in Angriff zu nehmen.» Dieser zuversichtliche Pragmatismus habe, so Gudni Johannesson, geholfen, ein unabhängiger Staat zu bleiben: «Wir sind ein kleines Land in der Mitte des Nordatlantiks, es ist uns gelungen, in dieser unwirtlichen Gegend zu überleben. Wir sind heute eine unabhängige Nation und spielen auch in der Weltpolitik eine Rolle».
Island hat seine Karten auf der internationalen Bühne immer wieder geschickt ausgespielt: etwa als Gründungsmitglied der Militärallianz Nato nach dem Zweiten Weltkrieg, als Gastgeber des Gipfeltreffens von US-Präsident Ronald Reagan und dem sowjetischen Staatschef Michail Gorbatschow 1986 sowie dem Beitritt zum Europäischen Wirtschaftsraum Mitte der 90er-Jahre.
Fussballer machen es vor
Für die Aussenpolitik ist laut isländischer Verfassung jedoch nicht der Staatspräsident verantwortlich, der über der Parteipolitik steht, sondern die gewählte Regierung. Die Aussenministerin heisst seit dem letzten Dezember Thordis Kolbrun Gylfadottir.
Sie betont, dass ihr Land auf der internationalen Bühne vor allem mit guten Geschichten Eindruck erwecken und Einfluss ausspielen kann: «Dazu gehöre die Gleichberechtigung und eine nachhaltige Klimapolitik mit erneuerbaren Energiequellen», sagt die 34 Jahre alte oberste Diplomatin Islands, die der konservativen Unabhängigkeitspartei angehört.
Wie im Fussball, wo es das isländische Herrenteam an einer Europameisterschaft vor einigen Jahren bis ins Viertelfinale schaffte, stelle sich der Erfolg auch in der Politik – so Thordis Kolbrun – früher oder später ein.