Zehntausende Binnenflüchtlinge, über 1200 Verletzte und gut 500 Tote: Der seit Tagen andauernde Beschuss zwischen Israel und der Hisbollah fordert viele Opfer im Libanon. Der Sprecher der UNO-Beobachtermission UNIFIL spricht mit SRF zur aktuellen Eskalation im Nahen Osten.
SRF News: Andrea Tenenti, Sie waren gerade im Süden Libanons unterwegs. Wie bewerten Sie die Situation?
Andrea Tenenti: Die Lage ist verheerend und alarmierend. Gestern gab es hunderte, wenn nicht tausende Bombardierungen. Vor allem am Nachmittag und in der Nacht. Im ganzen Einsatzgebiet von UNIFIL sehen wir Verwüstung – in Dörfern, an Gebäuden, Infrastruktur. Abertausende Menschen haben den Süden gestern und heute Richtung Norden verlassen. Die Situation ist sehr besorgniserregend. Wegen der Zerstörung, weil Zivilisten getötet werden und wegen der humanitären Situation.
UNIFIL hat gestern die Patrouillen entlang der Demarkationslinie zwischen Israel und Libanon eingestellt. Was bedeutet das genau?
Gestern war der Tag mit den meisten Bombardierungen im Süden Libanons seit Konfliktbeginn. Fast 500 Menschen wurden getötet, über 1200 verletzt. Es ist nicht das erste Mal seit dem letzten Oktober, dass wir die Patrouillentätigkeit einstellen mussten. Wir haben das immer wieder gemacht, wenn die Sicherheit unserer Soldaten ernsthaft bedroht war. UNIFIL ist aber weiterhin im Süden Libanons aktiv. Die Blauhelm-Soldaten beobachten die Lage von rund 50 Stützpunkten aus.
Wie stark schränkt die aktuelle Situation Ihre Arbeit ein?
Wir setzen unsere Arbeit fort, denn es ist wichtig, dass eine Lösung gefunden und eine Einigung erzielt wird. Wir haben von Anfang an gesagt, dass die bestehende UNO-Resolution 1701 die Lösung ist. Diese Resolution hat den Libanonkrieg 2006 beendet und hat zumindest bis letzten Oktober zu einer Einstellung der Kämpfe geführt. Dieser Vereinbarung haben 2006 alle zugestimmt – auch die Hisbollah, die Teil der damaligen Regierung war.
In den vergangenen 17 Jahren bis letzten Oktober haben wir eine der ruhigsten Zeiten in der jüngsten Geschichte Libanons erlebt.
Die UNO-Resolution 1701, welche die Hisbollah eigentlich verpflichten würde, ihre Kämpfer nordwärts hinter den Litani-Fluss zurückzuziehen: Das ist eine Kernforderung Israels im aktuellen Konflikt.
Ja, in den vergangenen 17 Jahren bis letzten Oktober haben wir eine der ruhigsten Zeiten in der jüngsten Geschichte Libanons erlebt. Wir wollen zurückgehen zu diesem Zustand. Die Resolution 1701 ist die Lösung für diesen Konflikt. Die libanesische Armee sollte wieder zurück in den Süden und dort ein waffenfreies Gebiet garantieren können. Auf der anderen Seite sollte es keine Verletzungen der libanesischen Lufthoheit und der territorialen Integrität durch Israel geben. Aber die Umsetzung ist nicht an uns, sondern an den involvierten Parteien. Ohne deren Engagement wird es schwierig, eine Lösung zu finden.
Ihre Hauptansprechpartner sind die libanesische und die israelische Armee. Doch der aktuelle Konflikt verläuft zwischen Israel und der Hisbollah. Sprechen Sie auch mit der Hisbollah?
Wir als Mission haben keine Beziehungen zu politischen Parteien. Aber wenn wir mit den libanesischen Behörden und der Armee sprechen, dann geben diese die Informationen weiter an die Hisbollah – und die Hisbollah auf dem umgekehrten Weg auch an uns. Es gibt also ein gewisses Mass an Kommunikation und wir versuchen dieses aufrechtzuerhalten.
Die Situation ist sehr schwierig, auch, weil beide Seiten sehr unterschiedliche Ansichten dazu haben, wie man die Stabilität in dieser Region wiederherstellen soll.
Das klingt kompliziert. Die militärische Macht im Libanon liegt bei der Hisbollah, doch Sie sprechen nicht direkt mit ihr.
Man kann auch sagen: Immerhin haben wir noch Kontakt und es gibt einen Austausch von Informationen. Aber es ist klar: Die Situation ist sehr schwierig, auch, weil beide Seiten sehr unterschiedliche Ansichten dazu haben, wie man die Stabilität in dieser Region wiederherstellen soll. Gerade deshalb wäre es wichtig, dass die Hauptakteure und die internationale Diplomatie an Lösungen arbeiten – und es eine glaubwürdige Mediation zwischen den Beteiligten gibt.
Das Gespräch führten Anita Bünter und Jonas Bischoff.