Eine Uhr aus den 1930ern, die Stimme Hitlers, die Hymne der Sowjetunion, ein Name «Sugihara», ein Mann: Ramunas Janulaitis. Alle diese losen Enden einer Geschichte treffen in einem zweistöckigen Haus an einer stillen Ecke in Kaunas in Litauen zusammen. 1939 residierte hier der japanische Konsul Chiune Sugihara. Er gilt als «Oskar Schindler Japans», Pendant des bekannten Judenretters.
Im Sommer 1940 ist Litauen, genauer Kaunas, das letzte Schlupfloch für die Juden Europas. Westeuropa ist fast vollständig unter der Herrschaft von Hitler und Mussolini. Polen wurde im Herbst 1939 zwischen Hitler und Stalin aufgeteilt. Bis im Sommer 1940 ist Litauen relativ unabhängig. Der letzte sichere Hafen.
Der Spion
In dieser Situation wird Sugihara nach Kaunas entsandt. Offiziell als Konsul, in Tat und Wahrheit als Spion. Denn noch sind Hitler und Stalin Verbündete, aber sie belauern sich. Blieben sie Alliierte, wäre Japan im Fernen Osten durch Stalin bedroht. Würden sie zu Feinden, hätte das imperiale Japan im Pazifik freie Hand. Eine entscheidende Frage.
Um sie zu beantworten, schickt Tokio seinen besten Mann nach Kaunas. Sugihara spricht fliessend Russisch. Und Kaunas gilt damals als ein Zentrum der Spionage, als Casablanca des Nordens.
Das Sugihara-Haus in Kaunas
Als die Sowjetunion im Sommer 1940 Litauen besetzt, sitzen die Flüchtlinge in der Falle. Und niemand will Juden aufnehmen. Die USA, Grossbritannien und Australien hätten damals kaum mehr als 50 Visa pro Monat ausgestellt, erzählt Ramunas Janulaitis.
Janulaitis ist ehrenamtlicher Direktor des Sugihara Hauses in Kaunas und dies aus Leidenschaft. Vor 15 Jahren hat er seinen Job als Ingenieur aufgegeben, um hier ehrenamtlich ein Museum aufzubauen und mit Möbeln aus der Zeit auszustatten.
In dieser kritischen Phase im Sommer 1940 habe Sugihara binnen sechs Wochen eigenmächtig und ohne Einverständnis aus Tokio Transitvisa nach Japan ausgestellt und so insgesamt 6000 polnischen Juden das Leben gerettet, erzählt Janulaitis.
Dann marschierten die sowjetischen Truppen ein, und Sugihara musste das Land verlassen. Ein Jahr später, 1941, folgte die Invasion der Nazis und fast alle Juden in Litauen wurden binnen weniger Monate ermordet. 99.5 Prozent der Juden seien umgebracht worden, so Janulaitis.
Die Familie Margolin
Sugihara war für Tausende der Retter in letzter Sekunde. Zum Beispiel für die Familie Margolin, die in den Listen von Sugihara auftaucht. Moishe Margolin war der Grossvater von Mark Margolin, einem 68-jährigen Zahnarzt, der heute in Zürich lebt.
Seine Grosseltern schafften 1939/40 die Flucht aus dem deutsch besetzten Warschau nach Kaunas. Mit dem Visum von Sugihara starteten sie eine abenteuerliche Reise, wie Mark Margolin erzählt: «Ihr Ziel war es, von Kaunas über Moskau und Wladiwostok nach Yokohama zu kommen.» Schliesslich erreichte die Familie Sydney, wo Mark Margolin 1957 zur Welt kam. Er wanderte von dort nach Israel und in die USA aus.
Sugihara war nach dem Krieg in Japan geächtet, weil er die Visa ohne Zustimmung der japanischen Regierung ausgestellt hatte. Erst heute ist er ein Held. Die überwiegende Mehrheit der Besucherinnen und Besucher im Sugihara-Haus kommt aus Japan. Auch diese zwei jungen Frauen. Fast jede und jeder in Japan kenne Sugihara, aus der Schule oder sogar aus den Manga-Comic-Heften, erzählen sie.
Mehr über Chiune Sugihara und die Familie Margolin erfahren Sie unter srf.ch/audio/zeitblende.
Die «Zeitblende» erweckt Geschichte zum Leben: bekannte und unbekannte Ereignisse der Schweizer Geschichte – und grosse Episoden der Weltgeschichte. Wir geben denen das Wort, die Geschichte erlebt und mitgeprägt haben. Zeitzeug:innen schildern ihre teils dramatischen Geschichten, historische Figuren werden wieder lebendig. Die besten Historiker:innen ordnen das ein und erklären, wie historische Ereignisse unser heutiges Leben prägen.
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