Anfang Woche ist ein Mann im Berliner Multikulti-Szenenquartier Prenzlauer Berg mit einem Gürtel attackiert worden. Der Mann, selber nicht Jude, trug eine Kippa und wurde als Jude beschimpft. Solche Szenen kommen in Deutschland vermehrt vor. Fragen an Josef Schuster, den Präsidenten des Zentralrats der Juden in Deutschland.
SRF News: Wie ist der jüngste Vorfall in Berlin einzuschätzen?
Josef Schuster: Ich habe das Thema bereits vor drei Jahren aufgegriffen, nämlich die Problematik, sich mit einer Kippa in einem muslimisch geprägten Stadtviertel zu bewegen. Im jüngsten Fall ging es aber um das gutbürgerliche Szeneviertel Prenzlauer Berg, wo ein Kippa-Träger nicht nur verbal beleidigt, sondern auch körperlich angegriffen wurde. Hier ist erneut eine rote Linie weit überschritten worden. Offensichtlich ist es zunehmend problematisch, sich offen als Jude erkennen zu geben, und zwar offenbar eher im grossstädtischen Bereich. Es gibt ein Bedrohungspotenzial. Man kann aber nicht den Umkehrschluss ziehen, dass jeder Jude in Deutschland an Leib und Leben in Gefahr ist.
Ist Antisemitismus in Deutschland in den letzten fünf Jahren gewachsen?
Eines kann definitiv gesagt werden: Der Antisemitismus ist nach aussen hin gerade auch für jüdische Menschen deutlicher spürbar geworden. Ob er prozentual gewachsen ist, lässt sich schwer sagen. Ich habe aber das Gefühl, dass man sich wieder getraut, das zu sagen, was man vielleicht schon lange gedacht hat, aber bisher nicht zu sagen wagte. Es geht also um einen Antisemitismus in der Mitte der Gesellschaft, der deutlicher spürbar ist.
Welchen Einfluss hatte die Flüchtlingskrise?
Fakt ist, dass viele Menschen nach Deutschland gekommen sind, die von ihrer Kindheit und Jugend an juden- und israel-feindlich aufgewachsen sind und diese Einstellung nicht einfach an der Grenze abgelegt haben. Wir merken jetzt auch, dass es offensichtlich eine Zunahme des Antisemitismus auch aus arabisch-stämmigen muslimischen Kreisen gibt. Es wäre aber nicht richtig, generell alle Menschen muslimischen Glaubens in Generalhaftung zu nehmen.
Jüdische Organisationen haben früh davor gewarnt?
Ich habe die Kanzlerin anlässlich des ersten Migrationsgipfels im Spätjahr 2015 auf diese Problematik hingewiesen. Ich war zu diesem Zeitpunkt ein einsamer Rufer in der Wüste. In der Zwischenzeit ist diese Problematik aber verstanden worden. Es ist jetzt die Aufgabe nicht nur der Politik, sondern auch der muslimischen Verbände, aktiv Gegensteuer zu geben. Die Politik hat reagiert und per 1. Mai einen Beauftragten für jüdisches Leben eingesetzt. Die muslimischen Organisationen sind verpflichtet, all diese Dinge aktiv voranzutreiben und in den Moschee-Gemeinden zu artikulieren. Hier gibt es grosse Defizite. Das Schlimmste ist: Wir wissen, dass es Moschee-Gemeinden gibt, wo von Imamen genau das Gegenteil gepredigt wird.
Welche Rolle spielt die AfD? wie ist das Verhältnis von AfD und Juden?
Äusserungen einzelner prominenter AfD-Funktionäre wie etwa eine «Abkehr vom Schuld-Kult» oder die Thesen zum Denkmal der ermordeten Juden in Berlin lassen tief blicken. Zugleich wird seitens der AfD argumentiert, sie sei die «einzige Partei, die jüdisches Leben in Deutschland garantieren» könne. Und all das im Hinblick auf ihre mitunter sehr problematischen Äusserungen zur Zuwanderung. Wenn ich mir das Gesamtbild der AfD anschaue und höre, jüdisches Leben in Deutschland bräuchte den Schutz der AfD, würde es hier wirklich sehr schlecht aussehen.
Wir gravierend ist das Problem von Mobbing an jüdischen Schülern?
Jeder Fall ist einer zu viel. Es handelt sich allerdings nicht um ein Problem in allen Schulen. Umso wichtiger ist es, dass hier gleich am Anfang bei Äusserungen gegen Minderheiten ein- und durchgegriffen wird. Hier darf es keinerlei Toleranz geben.
Was sind gute Strategien gegen Antisemitismus?
Das Ideale ist die Begegnung. Denn alles, was ich kenne und kennengelernt habe, ist mir nicht mehr fremd. Doch man muss hier das Zahlenverhältnis sehen: Deutschland hat rund 80 Millionen Einwohner, darunter 100'000 Juden. Die Möglichkeit, einen Juden kennenzulernen, ist also rein zahlenmässig begrenzt. Die Überlegung, Pflichtbesuche in KZ-Gedenkstätten einzuführen, halte ich sowohl für Schulklassen wie auch für Migranten für wichtig. So etwas kann, wenn es gut vorbereitet eingebettet ist, gerade auch bei Migranten mit eigenem Fluchtschicksal Empathie erzeugen.
Das Gespräch führte Peter Voegeli.