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Kampf gegen Coronavirus Ausgangssperre trotz beschönigter Zahlen in Indien

Den offiziellen Zahlen traut in Indien kaum jemand: Trotzdem oder deshalb werden die Massnahmen befolgt.

Indiens Premierminister Narendra Modi hält nicht viele Ansprachen. Doch wenn er eine hält, hat sie eine enorme Wirkung. Am letzten Donnerstag bat er via Fernsehen alle Inder und Inderinnen um einen Gefallen. «Bleibt am Sonntag alle zu Hause.» Und tatsächlich war die 20-Millionen-Einwohner-Stadt Mumbai am Sonntag wie leer gefegt.

Zum Vergleich: Am Bahnhof von Anderi, einem der wichtigsten Verbindungsorte der Stadt, schlurfen üblicherweise täglich Millionen von Pantoffeln über den Boden. Am Sonntag aber war die grosse Halle des Bahnhofs menschenleer. Selten kam ein Zug an und nahm einen der wenigen Passagiere mit. Denn von der Massnahme ausgenommen waren Ärztinnen und Ärzte, Busfahrer oder Polizisten.

Noch nie habe er Mumbai so leer gesehen, sagt ein Angestellter einer Medizinalfirma. Ausnahmsweise hat er einen Sitzplatz im Zug auf sicher. Davon kann er in der Regel nur träumen. Trotzdem freue er sich nicht darüber, denn das Coronavirus habe Indien fest im Griff.

Drastische Regeln trotz weniger Erkrankter

Die offiziellen Zahlen sind noch relativ tief. Bisher gibt es 370 bestätigte Fälle und sieben Tote. Bei derart tiefen Zahlen hat praktisch kein anderes Land so drastische Massnahmen ergriffen wie Indien. Ab heute Montag dürfen keine internationalen Flüge mehr landen. Kinos, Einkaufszentren und dergleichen sind schon seit einer Woche geschlossen. Doch so richtig Glauben schenkt diesen Zahlen niemand.

Die Regierung versuche, die Zahlen zu beschönigen, sagt ein Student, der allein an der Uferpromenade Marine Drive die frische Luft geniesst. Auch hier wäre sonst Hochbetrieb. Zweifel an den Zahlen sind begründet, denn bisher wurde nur getestet, wer kürzlich im Ausland war oder Kontakt hatte mit einem Infizierten.

Die Behörden gehen offenbar davon aus, dass sich das Virus in Indien nicht verbreitet hat. «Das beunruhigt viele Menschen hier», sagt der Student. Auch er fürchte sich.

Einen Tag zu Hause bleiben bringt nichts

Die beiden Passanten sind sich einig: Einen Tag zu Hause bleiben bringt wenig. Einzelne Gliedstaaten wollen die freiwillige Ausgangssperre nun bis Ende Monat ausweiten.

Der gestrige Tag zeigte aber vor allem eines: Die Leute hielten sich an Modis Anweisungen. So stand gestern denn auch halb Indien um fünf Uhr auf dem Balkon oder vor der Wohnungstür und machte Lärm oder klatschte in die Hände. Es war eine Geste für das Pflege- und Hilfspersonal. Die Inderinnen und Inder taten dies nicht, weil sie das wollten, sondern weil ihr Regierungschef sie auch darum gebeten hatte.

«Heute Morgen» 23.03.2020; 07:00 Uhr; lin; kurn

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