Femizid, die gezielte Ermordung von Frauen aufgrund ihres Geschlechts, ist die extremste Form von Gewalt gegen Frauen. Ermordet werden die Frauen meist von ihrem Lebenspartner oder Ehemann, zu Hause in den eigenen vier Wänden. Passieren kann das überall, doch eine der weltweit am stärksten betroffenen Regionen ist Lateinamerika. Dort sterben jeden Tag 12 Frauen als Folge eines Femizids, also rund 4400 Frauen im Jahr – das zeigen Zahlen der Vereinten Nationen.
Welche Tragweite ein Femizid hat, weiss Nancy Cortez: «Ich bin die Mutter von Paola Alvarado. Sie wurde 2018 ermordet. Ihr Körper wurde nie gefunden. Deshalb suche ich meine Tochter heute», erzählt die 57-Jährige mit brüchiger Stimme. Paolas Mörder, mit dem sich die Alleinerziehende gegen Geld traf, ist geständig – doch wo Paola ist, sagt er bis heute nicht. «Sie haben eine klitzekleine Blutspur meiner Tochter auf ihm gefunden. Deshalb bekam er 14 Jahre Gefängnis. Meine Tochter, Paola, hinterliess einen Sohn. Er war 17 als sie verschwand, jetzt ist er 21 und studiert. Ich bin für ihn die Mutter, der Vater, die Oma – alles», sagt Nancy.
Ein neues Gesetz lässt Angehörige Hoffnung schöpfen
Nancy ist Mitglied des Vereins von Familienangehörigen und Femizid-Opfern in Chile. Der kleine Verein hat zwar nur vierzehn Mitglieder, doch erreicht haben sie Grosses: Zusammen mit anderen Aktivisten und unterstützt durch die kommunistische Parlamentarierin Karol Cariola lobbyierten die Vereinsmitglieder in Chile für ein neues Gesetz, es tritt demnächst in Kraft. Das Gesetz ist in vielerlei Hinsicht revolutionär: Erstmals gibt es nun in Chile Reparationszahlungen für die Hinterbliebenen von Femizid-Opfern – es sind Unterstützungsgelder für die Kinder der getöteten Frauen. Denn ist die Mutter tot und der Vater als Mörder im Gefängnis, landen die Kinder oft bei den Grosseltern. Umgerechnet 170 Franken im Monat soll es für die Kinder in diesem Fall geben, bis zum 18. Lebensjahr. Das entspricht in Chile dem Drittel eines durchschnittlichen Monatslohns.
Erstmals werden mit dem neuen Gesetz neben den getöteten Frauen auch Familienangehörige als Opfer definiert – ein Status, der ihnen einen besonderen Schutz einräumt: Ein Kündigungsschutz etwa für Mütter wie Nancy, deren Sucharbeit und Gerichtstermine viel Zeit beanspruchen. Der Opfer-Status sei wichtig, sagt auch Walter Uribe Troncoso, der einzige Mann in der Runde: «Ich bin Opfer eines Femizids, und ich stehe dazu. Deshalb nennen wir uns Verein der Familienangehörigen und Femizid-Opfer Chile. Das ist keine Viktimisierung, sondern einfach eine Anerkennung. Dieser Tag veränderte alles. Was passierte, war schlimmer als ein Erdbeben. Es brachte unsere ganze Familie durcheinander». 55 Jahre alt war Walters Schwester, die Religionslehrerin Elizabeth Uribe, als ihr Mann sie erstach.
Der Machismo als gesellschaftliches Problem
«In so einer patriarchalen Gesellschaft ist es vielen egal, wenn Frauen sterben». Die Strafen für Femizide seien zu lasch, sagt Walter und spricht den in Südamerika noch immer weit verbreiteten Machismo an. Von den 25 Ländern mit den höchsten Femizid-Raten weltweit befinden sich 14 in Lateinamerika und der Karibik. Und: Die Zahl der Femizide in Lateinamerika hat in den letzten Jahren sogar zugenommen – das ergab eine Studie der Frauenorganisation der Vereinten Nationen. Auch in Chile nimmt die Anzahl Femizide zu.
Carols kleine Schwester Doris Andaur war Sanitäterin von Beruf. Sie starb 24-jährig, durch einen Kopfschuss, abgefeuert von der Dienstwaffe ihres Partners – ein Polizist von Beruf. «Ja, ich habe sie umgebracht, na und», habe er später zu ihr gesagt, sagt Carol. «Er wurde freigesprochen. Die gesamte Polizei hat ihn geschützt. Meine Schwester stellten sie in den Medien als verrückt dar», erzählt Carol. Die Anwaltskosten des mutmasslichen Mörders übernahm sein Arbeitgeber, die chilenische Polizei. Jetzt sei er wieder als Polizist im Einsatz auf der Strasse, sagt Carol.
Wir haben unsere Frauen schon verloren. Wir werden sie leider nie wieder sehen. Aber vielleicht können wir künftiges Leid mindern.
«Wir haben unsere Frauen schon verloren. Wir werden sie leider nie wieder sehen. Aber vielleicht können wir Leid mindern. Wenn du einen geliebten Menschen durch Krankheit oder einen Unfall verlierst, akzeptierst du, dass das schmerzt, aber zum Leben gehört. Aber wenn dein geliebter Mensch umgebracht wird, fällt es schwer, das zu verstehen. Und das einzige, was ich wollte, war, dass das niemals anderen passiert», sagt die Mittdreissigerin Carol. Sie studiert nun Rechtswissenschaften, half bei der Ausarbeitung des neuen Gesetzes.
Schwerwiegende Vorwürfe gegenüber der chilenischen Justiz
Staatliche Institutionen, die mutmassliche Täter schützen, Angehörige, die sich selbst überlassen sind. Carol, Walter und Nancy erheben schwerwiegende Vorwürfe. Nimmt die chilenische Justiz das Thema Femizid zu wenig ernst? Gegenüber SRF News sagt Justizminister Luis Cordero: «Das neue Gesetz ist ein bedeutender Fortschritt für Chile. Es gibt auch noch viel zu tun, was geschlechterspezifische Gewalt angeht, aber dass dieses Gesetz überhaupt durchkam im Parlament, zeigt, dass die Bereitschaft da ist, unser Rechtssystem zu verbessern».
Für Carol, Walter, Nancy und die anderen ist das neue Gesetz erst der Anfang. Sie wollen weiter kämpfen gegen Femizide – in Erinnerung an Paola, Elizabeth und Doris.