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«Kanzler der Einheit» Von «Wir sind das Volk» zu «Wir sind ein Volk»

Der ehemalige deutsche Bundeskanzler Helmut Kohl ist gestorben. Seine Rede 1989 in Dresden ging in die Geschichte ein: «Mein Ziel bleibt die Einheit unserer Nation», sagte er damals. Ein halbes Jahr später legte er zusammen mit dem sowjetischen Parteichef die Basis für die deutsche Einheit.

Am 19. Dezember 1989 rufen in Dresden Zehntausende DDR-Bürgerinnen und Bürger: «Helmut, Helmut, Helmut!». In diesem Moment wird Helmut Kohl zum historischen Kanzler der deutschen Einheit. Bei der Ruine der Frauenkirche hält er die Rede, die als Wendepunkt auf dem Weg zur deutschen Wiedervereinigung gilt.

Die Lage damals war unberechenbar und explosiv. Kohl mahnte die Menschen in Ostdeutschland angesichts der Umwälzungen, die sich in jener Zeit abzuspielen begannen, zu Geduld, Vorsicht und Zurückhaltung: «Es hat keinen Sinn, wenn wir nicht zur Kenntnis nehmen, dass viele uns auf diesem Weg mit Sorge – und manche auch mit Ängsten – betrachten. Aus Ängsten kann nichts Gutes wachsen. Und doch müssen wir als Deutsche unseren Nachbarn sagen; Angesichts der Geschichte dieses Jahrhunderts haben wir Verständnis für mancherlei dieser Ängste. Wir werden sie ernst nehmen.»

Mein Ziel bleibt die Einheit unserer Nation.
Autor: Helmut Kohl Bundeskanzler (19.12.1989)

Angst vor den Veränderungen in und um Deutschland hatten vor allem Regierungen im Osten – aber auch im Westen. So sahen etwa Frankreichs Präsident François Mitterand und Grossbritanniens Premierministerin Margaret Thatcher die Perspektive eines grösseren, stärkeren Deutschland mit sehr grosser Skepsis.

Bis zu diesem Moment in Dresden hatte Kohl auch nie von Wiedervereinigung gesprochen. Am 19. Dezember 1989 aber sagte er: «Mein Ziel bleibt, wenn die geschichtliche Stunde es zulässt, die Einheit unserer Nation.» Damit schraubte Kohl die Erwartungen um das entscheidende Stück höher – auf einer heiklen Gratwanderung zwischen dem Versuch die Gunst der Stunde zu nutzen und der Gefahr einen Krieg auszulösen.

Die Rede seines Lebens

Dieser gefährliche Weg führte zum Ziel. Von diesem Moment an riefen die Bürger der DDR nicht mehr wie bisher «Wir sind das Volk!» sondern «Wir sind ein Volk!». Gefordert wurde nicht mehr die Befreiung vom SED-Regime sondern der Zusammenschluss mit der Bundesrepublik.

Das geeinte Deutschland erhält seine volle und uneingeschränkte Souveränität.
Autor: Helmut Kohl Bundeskanzler (Juni 1990)

Die Wiedervereinigung konnte Kohl, dank seiner sonst guten Beziehung zu Washington, Paris und London schliesslich doch weiter verfolgen. Das Problem war aber die Sowjetunion: Wie würde diese auf die Perspektive eines grösseren – unter Umständen sogar der Nato angehörenden – Gesamtdeutschlands reagieren?

Kohl und sein Aussenminister Hans-Dietrich Genscher lösten dieses Problem im Juni 1990: Kohl verkündet am Schwarzen Meer seine Einigung mit dem sowjetischen Parteichef Michail Gorbatschow:

«Ich kann heute mit Genugtuung und in Übereinstimmung mit Präsident Michail Gorbatschow feststellen: Erstens; die Einigung Deutschlands umfasst die Bundesrepublik, die DDR und Berlin. Zweitens; Wenn die Einigung vollzogen wird, werden die vier Mächte die Rechte und Verantwortlichkeiten vollständig ablösen. Damit erhält das geeinte Deutschland zum Zeitpunkt seiner Vereinigung seine volle und uneingeschränkte Souveränität. Drittens; Das vereinte Deutschland kann in Ausübung seiner uneingeschränkten Souveränität – frei und selbst entscheiden – ob und welchem Bündnis es angehören will.»

«Glanzleistung des politischen Instinktes»

Damit war die Basis für die Einheit gelegt. Kohl hatte sich als brillanter Stratege erwiesen. Das attestierte ihm auch einer, der immer sein Gegenspieler war und früher wesentlich weniger von ihm gehalten hatte – sein Vorgänger SPD-Altbundeskanzler Helmut Schmidt. Dieser bezeichnete Kohls Strategie vor der Wende als «Glanzleistung des politischen Instinktes».

Kohl war kein grosser Theoretiker, kein Gelehrter und ausser an jenem Tag in Dresden auch kein grosser Rhetoriker. Aber: Ein Politiker mit einem untrüglichen Gespür.

«Birne will Kanzler werden»

Geboren 1930, bei Kriegsende 15 Jahre alt, engagierte sich Helmut Kohl früh in der Politik. Mit 17 gehörte er zu den Gründern der Jungen Union in seiner Heimatstadt Ludwigshafen. Er wird dann Historiker und dissertiert über die Bildung von Parteien nach dem Krieg. Mit 29 Jahren wird er Abgeordneter von Rheinland-Pfalz, später Fraktionsvorsitzender, CDU-Parteichef und schliesslich Ministerpräsident dieses Bundeslandes.

Kohls erster Versuch, 1976 auch national Parteichef zu werden, scheitert. Damals, als der etwas bieder wirkende, behäbige, dickwangige Pfälzer die nationale Bühne betrat, schmunzelten viele, andere lachten spöttisch. Ein Satiremagazin spielte auf seine Kopfform und seine politischen Unbedarftheit an, und titelte: «Birne will Kanzler werden.»

Casper Selg

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Legende: casperselg.ch

Seit mehr als 35 Jahren ist Casper Selg Journalist. Er leitete das «Echo der Zeit» und war Radio-Korrespondent in den USA und nach 2010 in Berlin. Seit seiner Pensionierung im Sommer 2015 arbeitet er als freier Journalist und Ausbildner. Er ist Mitglied des Schweizer Presserates.

Kohl kommt und bleibt an der Macht

Und das wurde er: Helmut Kohl kommt 1982 an die Macht und lässt sie 16 Jahre lang nicht mehr los. Er bewährte sich als Kanzler beim grossen Thema «Wiedervereinigung». Er setzte aber auch ein zweites starkes Zeichen: Kohl war ein überzeugter Europäer. Er kämpfte für ein engeres Zusammenstehen der Länder Europas, unter seiner Führung wurde die Einheitswährung, der «Euro» eingeführt, die von vielen als unverzichtbar gehaltene «D-Mark» abgeschafft.

Umgekehrt blieb Kohl auf internationalem Parkett immer etwas unbeholfen. Er sprach keine Fremdsprachen. Und er regierte zu Hause immer ausgesprochen autokratisch – zu starke Figuren duldete er nicht neben sich.

Als Chef Kohl dann 1998 seine Rolle als Chef verloren hatte, verlor er gleich auch seinen Nimbus mit dazu: Nach seiner Wahlniederlage und seinem Rücktritt musste er zugeben, dass er in seiner Amtszeit hohe Parteispenden an Buchhaltung und Steuern vorbei geschmuggelt hatte.

Skandale und der Bruch mit den Verbündeten

Als er aber hätte offenlegen sollen, von wem das Geld gekommen war, verweigerte er die Aussage. Damit blieb er auch unter extremem Druck jenen gegenüber loyal, welchen er Verschwiegenheit versprochen hatte. Aber: Er verhinderte damit die mögliche Aufklärung weiterer Delikte, wie etwa Begünstigung oder Schmiergeldzahlungen.

Das brachte ihm heftige Kritik ein und kostete ihm seine restlichen Ämter und Ehren – und weitere Freundschaften. Die mit dem amtierenden Finanzminister Wolfgang Schäuble etwa und auch jene mit seiner damals jungen ostdeutschen politischen Vertrauten: Angela Merkel.

Der lange Zeit verbitterte und mit vielen zerstrittene «Kanzler der Einheit» ist in den letzten Jahren gelegentlich wieder aufgetreten und von seiner Partei wieder mehrfach gewürdigt worden. Die Zeit hat noch einige wenige Wunden geheilt.

(SRF 4 News 17:30 Uhr; srf/schubeca; kurn)

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