Autos, Brennnesseln, nasse Schuhe. Es ist kein schöner Ort, um mit einer Reportage zu beginnen. Auf der farblosen Strassenkreuzung im äussersten Zipfel Nordirlands lasse sich das Karfreitagsabkommen jedoch am besten veranschaulichen, sagt Stephen Kelly: «Wenn Sie die Kreuzung genauer anschauen, sehen Sie, dass das Tempolimit auf den Signaltafeln vorne in Kilometern pro Stunde angegeben ist, auf der Rückseite jedoch in Meilen pro Stunde.» Allein daran sehe man heute, dass man gerade von Nordirland in die Republik Irland und damit in die EU rolle.
Vor 25 Jahren seien hier noch Barrikaden gestanden. «Dort drüben waren die bewaffneten Posten der britischen Armee und auf dieser Seite irische Zollbeamte.» Dank des Karfreitagsabkommens und Nordirland-Protokolls sei dies zum Glück Vergangenheit.
Eine Grenze mitten durch den Hühnerstall
Lediglich für Leute mit geübtem Auge, ist an jener Stelle, wo früher Menschen routinemässig kontrolliert und allenfalls arretiert wurden, im Asphalt eine feine gewellte Linie zu erkennen. Es ist die Stelle, wo der britische Asphalt auf denjenigen der EU trifft. Wobei der britische Asphalt eindeutig die schlechtere Qualität aufweise, meint Kelly.
Wenn der Lokalhistoriker und Präsident der Nordirischen Wirtschaftskammer Besucherinnen und Besuchern den Nordirland-Konflikt erklären will, fährt er mit ihnen im Auto durch die Gegend. Auf dem Weg von der Kreuzung im Niemandsland nach Derry ist das Gras zwar überall gleich grün. Doch man überquert die verschlungene Grenze zwischen Nordirland und der Republik Irland genau siebenmal.
«Manchmal verläuft die Grenze mitten auf der Strasse, gelegentlich durch die Gärten, durch Häuser und dort vorne durch eine Hühnerfarm. Wenn die Hühner durch die Vordertür ins Freie treten, sind sie in Nordirland, wenn sie durch die Hintertür spazieren, sind sie im Binnenmarkt. Ohne das Nordirland-Protokoll wäre die Zollgrenze also mitten durchs Hühnerhaus verlaufen.»
IRA verübte Anschlag
Seit dem Frieden vom Karfreitag pendeln Hühner und Menschen jedoch frei zwischen Nordirland und der Republik. Kelly ist froh, dass es keine Grenze mehr gibt. Diese war nicht nur verschlungen, sondern auch lebensgefährlich.
«Hier auf der linken Seite sehen Sie eine alte Brücke. Am Geländer eine Vase mit Blumen. Im Gedenken an die Menschen, die hier vor mehr als 30 Jahren ermordet wurden. Die Brücke war damals ein Grenzposten der britischen Armee», so Kelly. Die IRA, also die «Irish Republican Army», eine paramilitärische Organisation, hat in einem Lieferwagen eine Bombe versteckt und den Chauffeur gezwungen, hierher zu fahren, und diese dann aus der Ferne gezündet.
Polizei feuerte auf Unbewaffnete
Der Chauffeur und vier britische Soldaten seien durch die Bombe getötet worden. Der 53-jährige Kelly ist einen Steinwurf davon entfernt aufgewachsen. Detonationen bildeten die Tonspur seiner Jugend. In Derry eskalierten die «Troubles» – wie der Bürgerkrieg mit britischem Understatement bezeichnet wird – mit dem Massaker vom blutigen Sonntag. Republikanische Bürgerrechtlerinnen und Bürgerrechtler hatten sich am 30. Januar 1972 zu einem Protestzug formiert. Auf Tonaufnahmen des damaligen Funkverkehrs der britischen Armee ist zu hören, wie Soldaten nervös versuchen, die Innenstadt unter Kontrolle zu bringen.
Um 14:07 gibt der Kommandant einer britischen Spezialeinheit ohne nachvollziehbaren Grund das Feuer frei.
Innerhalb von neun Minuten werden 13 Menschen erschossen, über 20 schwer verletzt. Niemand von ihnen hatte eine Waffe bei sich. Die Tonbänder mit dem verstörenden Funkverkehr und die 108 Hülsen der verschossenen Kriegsmunition lagern heute leicht verstaubt im Keller des Ortsmuseums von Derry. Die Erinnerungen wach in den Köpfen der Menschen.
«Ich bin im Dezember 1971 auf die Welt gekommen. Meine Grossmutter lebte im Stadtzentrum von Derry. Am blutigen Sonntag war ich gerade zwei Monate alt. Eine Kugel der britischen Armee durchschlug das Fenster und blieb in der Wohnzimmerwand stecken.» Er habe von dem natürlich nichts mitbekommen. Das Loch in der Wand erinnere ihn jedoch bis heute daran, dass er bereits als Säugling von Gewalt umgeben gewesen sei. Umso mehr sei er erleichtert, dass in Nordirland endlich Frieden herrsche.
Noch immer sind die Wunden tief
Verwundet sei die Gesellschaft jedoch geblieben. Denn jeder und jede trage eine Geschichte mit sich herum. Väter, Schwestern, Freunde und Kinder seien erschossen oder verletzt worden.
«25 Jahre mögen eine lange Zeit sein, aber sie reichen nicht aus, um solche Wunden in einer Gesellschaft zu heilen. Bis die Menschen in Nordirland wirklich miteinander versöhnt sind und wir unsere «Troubles» in der Vergangenheit hinter uns lassen können, wird es wohl noch ein bis zwei Generationen dauern.» Der Frieden von Karfreitag kann keine Wunden heilen. Aber er sorgte dafür, dass von Gräben und Grenzen nur noch feine Linien im Asphalt übrigbleiben.