In der Grenzregion Ladakh am Himalaya ist es zwischen indischen und chinesischen Soldaten zu einer Auseinandersetzung mit Schlagwaffen gekommen. Indien spricht von mindestens 20 getöteten eigenen Soldaten, China macht keine offiziellen Angaben zu Opfern. Beide Nachbarn weisen die Schuld für den tödlichen Zwischenfall dem jeweils anderen zu. Für Asienexperte Christian Wagner stehen aber beide Konfliktparteien in der Verantwortung.
SRF News: Wie kann die aktuelle Auseinandersetzung eingeschätzt werden?
Christian Wagner: Der Konflikt zwischen Indien und China im Kaschmir-Gebiet geht bis auf die Kolonialzeit zurück. Seit jeher gibt es unterschiedliche Interpretationen über die Grenzverläufe in der Region, was immer wieder zu kleineren Konfrontationen geführt hat. Mit dem direkten Zusammenstoss der Konfliktparteien ist aber eine neue Dimension erreicht.
Was ist der Auslöser für die Zusammenstösse im Kaschmir-Gebiet?
Dafür gibt es zwei Gründe. Zum einen hat Indien im letzten Jahr den Status des Bundesstaates Kaschmir geändert. Jetzt ist die Region Unionsterritorium Indiens ohne Souveränität. In der Folge hat Indien die Grenzbefestigungen zu China ausgeweitet. China beobachtet diese Entwicklung sehr kritisch und will das nicht einfach so hinnehmen. Zum anderen nutzt China nun auch die Coronakrise, um die Gebietsansprüche in der Region auszuweiten.
Mit welcher Begründung erhebt China überhaupt Anspruch auf das Gebiet?
Das hat historische Gründe. China hat bereits im Jahr 1962 Teile des Grenzgebiets besetzt. Seither herrscht Unklarheit über den Verlauf der Grenzen. Nun fühlte sich China offenbar bedroht von der Agenda der indischen Regierungspartei. Diese hat mit der generellen Abschaffung der Sonderprivilegien für die Bundesstaaten indirekt ihren Einfluss in der Kaschmir-Region ausgeweitet. Das hat sicherlich zu dieser Konfrontation beigetragen.
Was ist daran so gefährlich?
Es ist die grösste Krise zwischen den beiden Ländern in den letzten Jahrzehnten. Zum ersten Mal seit langem sind wieder Tote zu beklagen. In der Vergangenheit kam es zwar immer wieder zu Grenzübertretungen von beiden Seiten. Nun passierte dies aber gleich in mehreren Zonen. Das heisst, wir haben eine unübersichtlichere Konfliktlage als bisher. Ich denke aber trotzdem nicht, dass es nun zu einem Flächenbrand kommt. Daran können weder China noch Indien interessiert sein.
Welche Interessen verfolgen denn die beiden Länder?
China hat einen Hegemonie-Anspruch für Asien, auch wegen der neuen Seidenstrasse. Indien auf der anderen Seite sieht sich seit jeher als gleichwertige Macht und will die eigenen Interessen nicht hinten anstellen. Das Risiko eines offenen Konflikts mit Indien will China dennoch nicht eingehen.
Weshalb nicht?
Man will kaum riskieren, dass Indien sich weiter den USA annähert. Deshalb gehe ich davon aus, dass man wie jeweils in der Vergangenheit eine Lösung finden wird.
Das Gespräch führte Marco Schnurrenberger.