In der Region Idlib im Nordwesten Syriens wird trotz Waffenruhe weiterhin intensiv gekämpft. Für die drei Millionen Zivilisten bedeutet das noch mehr Leid, Schmerz und Flucht, wie Christin Lüttich von der Hilfsorganisation «Adapt a Revolution» weiss.
SRF News: Sie stehen regelmässig mit Menschen in Idlib in Kontakt. Was erzählen Ihnen diese?
Christin Lüttich: Unsere fünf Projektpartner vor Ort berichten von katastrophalen Zuständen. Wegen des Winterregens versinkt alles im Schlamm, zudem gibt es kaum leere Wohnungen. Sogar das Verteilen von Brot gestaltet sich schwierig. Hinzu kommen die Bombardierungen durch das syrische Regime.
Internationale Hilfe ist kaum möglich, weil die Grenzübergänge weitgehend geschlossen sind.
In der Region Idlib leben rund drei Millionen Menschen, die Hälfte von ihnen ist aus anderen syrischen Gebieten dorthin geflüchtet. Dominiert wird das Gebiet zudem von islamistischen Milizen. Was bedeutet das für die Menschen und die Helfer vor Ort?
Es ist eine sehr herausfordernde Situation für die zivilen Helfer und die zivilgesellschaftlichen Organisationen. Die islamistische, al-Kaida-nahe Miliz HTS versucht gar nicht erst, die Menschen zu versorgen, sie überlässt das den zivilen Initiativen. Zugleich ist internationale Hilfe kaum möglich, weil die Grenzübergänge weitgehend geschlossen sind. Die Situation ist ein Desaster.
Hat die seit letztem Wochenende geltende Waffenruhe nichts gebracht?
Nein. Gerade einmal 48 Stunden nach Inkrafttreten der Feuerpause flogen am Mittwochmorgen Kampfflugzeuge einen Angriff auf einen sehr beliebten Markt. Dabei starben 20 Zivilisten. Auch wurden seither mehrere international geächtete Fassbomben auf Dörfer im südlichen Teil Idlibs abgeworfen. Weiterhin sind Schulen und Krankenhäuser systematisch Ziel der Angriffe. Es gibt überhaupt keine Zeichen der Entspannung.
Seit einiger Zeit sind sogenannte humanitäre Korridore eingerichtet, durch die Zivilisten aus der umkämpften Region fliehen können. Was bringt das?
Allein der Begriff ist irreführend. Denn man würde ja davon ausgehen, dass solche Korridore von Parteien eingerichtet würden, die nicht am Konflikt beteiligt sind. Sie wurden jedoch von Russland und dem syrischen Regime ausgerufen – denselben Parteien also, die Idlib jeden Tag bombardieren. Deshalb ist es nicht wirklich verwunderlich, dass bisher nur sehr wenige Menschen durch diese Korridore geflohen sind.
Die humanitären Korridore führen auf syrisch kontrolliertes Gebiet. Droht den Geflüchteten dort Gefahr durch die syrischen Regime-Kräfte?
Es gibt zahlreiche Berichte, dass geflüchtete Syrer, die zurückkehren, von Verhaftung, Folter, Zwangsrekrutierung oder sogar Tötung bedroht sind. Das schätzt auch das deutsche Aussenministerium so ein. Für das syrische Regime gelten grundsätzlich alle Menschen als verdächtig, die in einem von Oppositionskräften gehaltenen Gebiet Zuflucht gesucht haben.
Der Verbleib von Hunderten Verhafteten ist nicht geklärt.
Wir wissen, dass rund 70 Prozent der Menschen, die letztes Jahr aus dem belagerten Gebiet Goutha bei Damaskus geflohen sind, von Regime-Kräften verhaftet wurden. Bis heute ist über den Verbleib Hunderter Verhafteter nichts bekannt. Deshalb fliehen die Menschen im Fall von Idlib eher in Richtung türkischer Grenze als durch einen sogenannten humanitären Korridor auf syrisches Gebiet. Doch die türkische Grenze ist geschlossen – einerseits, weil die Türken kein Interesse an den Menschen aus Syrien haben. Andererseits aber auch, weil die Türkei mithilfe der Milliardengelder aus der EU eine Mauer an der Grenze gebaut hat.
Das Gespräch führte Silvan Zemp.