Vier Monate lang bombadierten die syrischen Streitkräfte mit Hilfe der Russen in der nordwestlichen Provinz Idlib die letzte Rebellenbastion intensiv. Sie zerstörten auch Spitäler, was die Not noch grösser gemacht hat. Ende August verkündete Russland einen Waffenstillstand, der aber nur teilweise hält. Mit den Angriffen der Türken auf Kurden im Nordosten dürfte die Not noch grösser werden.
Wenigstens hätten die Luftangriffe aufgehört, sagt Ahmed. Der 30-jährige Leiter eines kleinen Hilfswerks in Idlib klingt besser als beim letzten Gespräch Ende August. Die Lage in der seit Jahren umkämpften Provinz sei zwar alles andere als ruhig.
Wir versuchen, eine möglichst normale Atmosphäre zu schaffen, um nicht durchzudrehen.
Trotzdem versuchten die Menschen in seiner Stadt, Marat an-Numan, so zu leben, als wäre kein Krieg, erzählt er via WhatsApp-Verbindung: «Wir versuchen, eine möglichst normale, gute Atmosphäre zu schaffen, sonst würden wir durchdrehen», so Ahmed.
Flucht vor Regierungstruppen im Sommer
Aber zur Arbeit gehen, Verwandte und Freunde besuchen, Kinder draussen spielen lassen, auf dem Markt einkaufen – all das täusche nicht über die ständige Gefahr hinweg. Sobald eine Rakete einschlage, seien die Strassen leer, so Ahmed. Letzten Freitag sass er am Steuer, als in 200 Metern Entfernung eine Rakete detonierte. Er liess sein Auto sofort stehen und suchte ein Versteck.
So sei das Leben in Maarat an-Numan: Zwar seien rund 60 Prozent der Bevölkerung in die Stadt zurückgekehrt, nachdem sie im Sommer aus Angst vor einem Einmarsch der Regierungstruppen geflüchtet war. Aber ein- bis zweimal pro Woche würden diese die Stadt beschiessen, unter anderem mit Boden-Boden-Raketen.
Raketen auf Spitäler
Letzte Woche wurde laut Ahmed ein medizinisches Zentrum beschossen: «Ich wohne ziemlich weit weg von diesem Zentrum, aber ich habe die Explosion gehört», erzählt Ahmed. «Ich bin hingegangen, um zu helfen und habe schreckliche Szenen gesehen.»
Angriffe auf medizinische Einrichtungen kämen so häufig vor, dass die Menschen in Idlib Angst hätten, sich in einem Spital behandeln zu lassen, berichtet Duccio Staderini. Er arbeitet bei der Organisation Ärzte ohne Grenzen (MSF) in Genf als Einsatzleiter für Syrien.
Frauen wollen einen Kaiserschnitt und verlassen das Spital nach drei Stunden – aus Angst.
«Aus Angst vor Angriffen bringen Frauen Kinder mit Kaiserschnitt zur Welt und verlassen bereits drei Stunden später das Spital», berichtet Staderini. Empfohlen wäre bei diesem Eingriff ein mehrtägiger Spitalaufenthalt.
Die ständigen Angriffe auf Spitäler begründet die syrische Regierung damit, dass sich dort Terroristen verschanzten. Auf die medizinische Versorgung in Idlib hat das verheerende Auswirkungen.
Lokale Helfer auf sich allein gestellt
Die schweren Bombardierungen von Städten in Idlib in den letzten Monaten haben besonders viele Verletzte gefordert. Doch medizinisches Personal lässt die syrische Regierung kaum ins Land. Nicht einmal der MSF-Einsatzleiter für Syrien darf nach Idlib: «Idlib gehört heute zu den restriktivsten Regionen der Welt, was die Zulassung von humanitärer Hilfe betrifft», sagt Staderini.
MSF arbeitet in Syrien mit lokalem Personal. Dieses ist immensen Gefahren ausgesetzt. Der drohende Angriff der Türkei auf den Nordosten Syriens macht Ahmed Angst: Er befürchtet weitere russische Luftangriffe auf Idlib, während die türkischen Streitkräfte von der anderen Seite vorrücken. Und hofft doch, dass alles nicht noch schlimmer wird: «Hoffnung ist alles, was wir noch haben», sagt Ahmed.