Boris Johnson kann besinnliche Festtage wohl vergessen. Zu gross ist der Druck auf den britischen Premierminister in den letzten Tagen und Wochen geworden. Auch, weil er derzeit mit erstaunlicher Treffsicherheit von einem Fettnäpfchen ins nächste stolpert.
Eine Weihnachtsparty seiner Mitarbeiter letztes Jahr, die trotz strenger Corona-Massnahmen stattgefunden haben soll, sorgte im Königreich für allgemeine Empörung:
Exorbitante Renovationskosten seiner Dienstwohnung bescherten ihm weitere Negativschlagzeilen. Zu allem Überfluss kamen Korruptionsvorwürfe gegen Parlamentsmitglieder von Johnsons konservativer Partei auf.
Und dann ist ja da auch noch die neue Corona-Version Omikron, die sich in Grossbritannien sehr schnell verbreitet. Johnson will deshalb strengere Massnahmen einführen – eigentlich eine Gelegenheit für den angeschlagenen Premier, sich als Mahner und Macher in der Pandemie zu präsentieren.
Die «99 Probleme» des Premiers
Allerdings bekam er seine Pläne für 3G-Regeln in Discos und bei Grossveranstaltungen nur mit Hilfe der Opposition durchs Unterhaus. 99 Abgeordnete der Konservativen stimmten am Dienstag dagegen.
Der Premier habe nun 99 Probleme, schrieb das Online-Portal «Politico» angesichts der bisher grössten Tory-Rebellion gegen ihn.
Es gab in der Parlamentsdebatte völlig abstruse Vergleiche. Die Covid-Massnahmen wurden mit der Gesetzgebung in Diktaturen oder gar Nazi-Deutschland verglichen.
SRF-Korrespondent Patrik Wülser beobachtet die Vorgänge in London – und sieht keine orchestrierte, geschlossene Aktion gegen den eigenen Premier: «Die Rebellinnen und Rebellen setzten sich aus unterschiedlichen Rudeln und Stämmen zusammen.»
Einigen von ihnen hätten den exzentrischen Premier wohl tatsächlich für seine Party- und Tapeteneskapaden abstrafen wollen, schätzt Wülser. «In erster Linie war es aber ein Aufstand gegen jegliche Einschränkung der Freiheit – insbesondere gegen die Einführung von Covid-Zertifikaten.»
Am 19. Juli hatte Johnson den «Freedom Day» in England verkündet – also die schrittweise Aufhebung aller Corona-Massnahmen. Den Beschluss bezeichnete er als «vorsichtig, aber unumkehrbar». Im Parlament wehrten sich die abtrünnigen Tories nun nach Kräften gegen neuerliche Restriktionen.
«Während der Debatte hatte man den Eindruck, dass sie auf einem völlig anderen Planeten als die Wissenschaft und die Realpolitik leben», fasst Wülser die Voten in Westminster zusammen. «Es gab auch völlig abstruse Vergleiche. Die Covid-Massnahmen wurden mit der Gesetzgebung in Diktaturen oder gar Nazi-Deutschland verglichen.»
«Peinlicher Kontrollverlust»
Im Parlament bekam Johnson den bislang grössten offenen Widerstand aus der Konservativen Partei zu spüren. Die eigenen Abgeordneten hätten ihren Premier regelrecht im Regen stehen gelassen, so der Korrespondent.
Die oppositionelle Labour-Partei schlägt bereits Kapital daraus, dass Johnson auf ihren Goodwill angewiesen ist. «Sie bezeichnen den Premier als nicht mehr handlungsfähig. Beispielsweise wenn sich in den kommenden Tagen noch strengere Covid-Massnahmen aufdrängen würden.»
Unsentimentale Tories
So drastisch schätzt Wülser die Lage des britischen Premiers nicht ein. «Es ist aber ein peinlicher Kontrollverlust und wahrscheinlich auch ein Wendepunkt in seiner Amtszeit.»
Über die Festtage dürfte Johnson Zeit genug haben, sich zu überlegen, wie er seine Autorität wiederherstellen will. Gelingt ihm dies nicht, sind die Tories nicht für falsche Sentimentalitäten bekannt: «Wenn sie spüren, dass ein Premierminister zur Altlast wird, sind sie relativ schmerzfrei dabei, ihn zu entsorgen.»