Der junge Iraker nennt sich «Ali». Mit seinem richtigen Namen will er nicht zitiert werden. Aus Angst, er könnte von bewaffneten Gruppierungen ermordet werden. «Ich erinnere mich noch, als sie einen Übersetzer mit einem Kopfschuss töteten. Da war ich 16. Sie fesselten ihn an eine Strassenlampe und erschossen ihn», sagt Ali. «Später erfuhren wir: Er war Übersetzer. Manchmal kommt diese Erinnerung hoch. Dann denke ich: Vielleicht werde ich auch so sterben.»
Vielleicht erschiessen sie mich eines Tages, weil ich Übersetzer war.
Mit dieser Angst lebt Ali seit Monaten. Weil er selbst als Übersetzer gearbeitet hat: für die US-Truppen im Irak. An einem etwas versteckten Ort in Bagdad erzählt er, wie es dazu kam.
«Ein Freund bekam eine Stelle, über die er nicht reden konnte. Nach einem Jahr brach er sein Schweigen und sagte: ‹Hey, bewirb dich doch auch!› Es war ein mehrmonatiger Prozess: Ich musste alles über mich und meine Familienmitglieder angeben, ich wurde von Kopf bis Fuss ärztlich untersucht, dann zwei Stunden lang in einem kalten Raum verhört.»
Er träumte von der Arbeit für die US-Armee
Für Ali wurde ein Traum wahr, als er sämtliche Aufnahmeprüfungen der von ihm bewunderten US-Armee bestand. «Die irakische Armee schaffte es nicht, unser Land gegen den IS zu verteidigen. Und das hier ist die US-Armee, mit all ihrer Erfahrung! Wir empfinden es als unsere Pflicht, unserer Armee zu helfen: Wir übersetzen Kurse und Handbücher der US-Armee, damit sich die irakische Armee dieses Wissen auch aneignet.»
Einmal habe er mitten in der Nacht eine Nachricht erhalten, erzählt Ali. Um 6 Uhr früh habe er am Flughafen zu sein. «Ich durfte nicht einmal meiner Familie verraten, was ich mache. Am Flughafen eskortierte mich ein Mann durch die ganze Sicherheitskontrolle und dann zum Rollfeld. Da sah ich zwei amerikanische Blackhawks im Landeanflug.»
Alis Augen leuchten auf. Er erzählt vom holprigen Flug zu einem US-Militärstützpunkt irgendwo im Irak, vom Training, von seiner Arbeit im Feld.
Ich durfte nicht einmal meiner Familie verraten, was ich mache.
«Es war etwas unheimlich, weil wir zum Arbeiten den Stützpunkt verlassen mussten: Mit Helm, kugelsicherer Weste und auch immer mit Brille und Maske – damit uns die irakischen Soldaten nicht erkannten. Von der US-Armee wollten die irakischen Soldaten lernen. Gleichzeitig waren wir Übersetzer in ihren Augen Verräter. Sie gaben uns nach den Trainings nicht einmal die Hand.»
Kündigung von einer Stunde auf die nächste
Die Übersetzer riskierten für ihren Job alles, auch die Sicherheit ihrer Familien. Bewaffnete Gruppierungen lauerten den US-Truppen und ihren Übersetzern auf oder beschossen die amerikanischen Militärstützpunkte mit Raketen.
Fast zwei Jahre war Ali im Dienst der US-Armee. «Eines Tages bekamen wir Übersetzer den Befehl, die US-Militärbasis innerhalb von einer Stunde zu verlassen. Sie brachten uns – zu Fuss! – zum irakischen Armeegelände.» Die irakischen Soldaten hätten sie verflucht und beschimpft, so Ali. «Weil wir vom US-Stützpunkt kamen, mussten wir ihnen alle unsere Sachen geben: Wie eine Art Bestechung, damit sie uns laufen lassen.»
Sie gingen zur Hauptstrasse, riefen von dort Taxis, um nach Hause zu gelangen. «Nach vier oder fünf Tagen bekamen wir eine E-Mail: Das sei's gewesen mit dem Job bei der US-Armee. Wir waren entlassen. Danach fanden wir heraus, dass die US-Armee unsere vollständigen Personalien den irakischen Behörden übergeben hatten, die von den bewaffneten Gruppierungen unterwandert sind.»
Die US-Armee hatte unsere vollständigen Personalien den irakischen Behörden übergeben.
Die Liste mit den Namen einiger Hundert irakischer Übersetzer tauchte kurz danach im Internet auf. In den sozialen Medien drohten bewaffnete Gruppierungen den Übersetzern mit dem Tod.
«Vertrauen in die USA basierte auf einer Lüge»
«Es war schockierend, wie unprofessionell sie unser Arbeitsverhältnis beendeten», sagt Ali. «Niemand weiss besser als die Amerikaner, was im Irak läuft und in welcher Gefahr wir Übersetzer uns befanden. Und trotzdem servierten sie uns den Milizen auf dem goldenen Tablett.»
Mit ihrer überragenden Logistik hätte die US-Armee ihre Übersetzer doch einfach an einen sicheren Ort fliegen können, sagt Ali. Das habe sie aber nicht getan. Obwohl die USA – im Wissen um die Gefahren – ihren Übersetzern US-Visa versprochen hatten. Ali hat sich erfolglos um ein solches Visum bemüht. Es bleibt ihm nichts anderes übrig, als zu warten, bis ihn die Milizen aufspüren.
«Die meisten Übersetzer kämpfen mit der Verarbeitung ihrer Situation. Tief in uns drin fühlen wir uns wertlos. Und wir finden keinen Platz mehr in unserer Gesellschaft», sagt Ali. «Es ist schwierig, zu akzeptieren, dass all unsere Opfer für nichts waren. Wir sehen allmählich ein, dass unser Vertrauen in die USA auf einer Lüge basierte. Das nagt an unserer Psyche.»
US-Visum: 36 statt 9 Monate Wartezeit
Wie Ali hoffen viele Übersetzer im Dienst des US-Militärs bisher vergeblich auf ein Einreisevisum in die USA. Denn das «Special Immigration Visa»-Programm (SIV) für Irak und Afghanistan ist hürdenreich und überbelastet. Dessen Mängel sind in den USA wohlbekannt. Es gibt Zeugenberichte, Studien und ein richterliches Urteil aus dem Jahr 2019.
Denn die US-Behörden wären eigentlich per Gesetz dazu verpflichtet, einen Visumsantrag innerhalb von neun Monaten zu beantworten. 2019 dauerte die Wartezeit durchschnittlich drei Jahre.
Polit-Anthropologe Noah Coburn hat das SIV-Programm untersucht. «Es sind schätzungsweise über 20'000 Verfahren hängig. Genau weiss man es nicht, da die Biden-Regierung keine aktuellen Zahlen publiziert», sagt Coburn.
Aus US-Sicht hatte der irakische Übersetzer Ali keine Chance, ein Visum zu erhalten.
Das Irak-Programm sei zudem 2014 eingefroren worden. Nur vor Oktober 2014 begonnene Verfahren würden noch berücksichtigt. «Aus US-Sicht hatte der irakische Übersetzer Ali deshalb keine Chance, ein Visum zu erhalten.» Die Aufmerksamkeit der US-Behörden habe sich längst von Irak auf Afghanistan verschoben, sagt der Experte von der Brown University.
«Special Immigration Visa»
Bürokratische Hürden, kompliziertes Verfahren
Immerhin: Seit 2014 haben Tausende von irakischen und Zehntausende von afghanischen Übersetzern und Familien ein US-Visum erhalten. Vor dem Rückzug aus Kabul erhöhte der US-Kongress das Kontingent für Afghanistan.
Doch es ist enorm kompliziert, einen Antrag zu stellen. Für ein erfolgreiches Verfahren braucht es 14 bürokratische Schritte. Die meisten Anträge scheitern schon am ersten Schritt: Ein Kommandant muss bestätigen, dass ein Visumsbewerber mindestens ein Jahr fürs US-Militär gearbeitet hat. Doch Kommandanten seien für einfache Übersetzer oft unerreichbar und rotierten zudem häufig, sagt Coburn.
«Special Immigration Visa»
Hinzu kommt: Offizielle Anstellungslisten führe das US-Militär nicht. «Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass ehemalige Regierungsmitarbeitende der Regierung ihre Mitarbeit nachträglich beweisen müssen.» Gerade für Angestellte von privaten Sicherheitsunternehmen im Dienst der US-Armee sei das oft unmöglich.
Das laut Noah Coburn darunterliegende Grundproblem: Das Verteidigungsdepartement ist nicht zuständig für die Visa-Ausgabe. Federführend ist das Aussendepartement, aber dieses hat nicht das nötige Personal vor Ort, um die Visa-Verfahren durchzuführen. In Afghanistan, wo nach wie vor Tausende ein Visum beantragt haben, gibt es inzwischen gar keine diplomatische Vertretung mehr.
US-Veteranen wollen ehemaligen Mitarbeitern helfen
Viele US-Veteranen versuchen, ehemalige Mitarbeiter, mit denen sie oft enge persönliche Beziehungen pflegen, aus Irak oder Afghanistan herauszuholen. Während des chaotischen Rückzugs der US-Truppen aus Kabul waren Hunderte von Veteranen-Gruppen vor Ort aktiv. «Es ist herzzerbrechend», sagt Air-Force-Veteran Phil Caruso. «Manche Mitarbeitende haben ihr Leben für US-Soldaten und Soldatinnen riskiert.»
Caruso leitet die Veteranen-Organisation No One Left Behind, die sich in Washington seit Jahren für Reformen einsetzt. Er fordert eine koordinierte Führung des SIV-Programms sowie eine zentrale Erfassung der Mitarbeitenden-Daten. Für Anträge aus Afghanistan brauche es zudem ein virtuelles Notverfahren. «Die Zeit drängt, denn die Menschen befinden sich in Lebensgefahr.»
Diese Menschen befinden sich in Lebensgefahr.
Und deshalb würden die Veteranenorganisationen den Kongress und die Regierung inständig bitten, sofort etwas zu unternehmen, auch wenn die Ukraine-Krise im Moment in Washington Priorität geniesse.