Blickt man in Gerhard Schröders Anwaltskanzlei in Hannover, sieht man all das, was ein bewegtes und langes politisches Leben ausmacht. Das USM-Haller-Gestell platzt fast vor Literatur, die neuesten Bücher liegen quer auf den darunter stehenden. Auf dem Regal: Familienfotos, Zeichnungen, Würdigungen.
Und besonders bemerkenswert: An der Wand hängen Schwarz-Weiss-Porträts aller Kanzler und der Kanzlerin der Bundesrepublik Deutschland. Schröder ist einer der acht Menschen an der Wand – neben Adenauer, Erhard, Kiesinger, Brandt, Schmidt, Kohl und Merkel. (Scholz hängt da noch nicht.)
Nichts Schlimmeres als ein Selfie mit Gerd
Er hatte es geschafft, der Arbeiterjunge aus dem Kreis Lippe in Nordrhein-Westfalen. Hunger hatten sie zu Hause, der Vater im Krieg gefallen. Doch Schröder boxte sich durch bis nach ganz oben, bis ins Kanzleramt. Und ist jetzt zwar nicht finanziell, aber gesellschaftlich wieder da, wo er angefangen hatte. Ganz unten. Als «Gas-Gerd» wird er verspottet, jeder, der kann, distanziert sich von ihm. Nichts Schlimmeres als ein Selfie mit Gerd.
Nun das erstinstanzliche Urteil der SPD-Schiedskommission: Putin-Freund dürfe man sein, das gehöre zum «höchstpersönlichen Bereich der Lebensplanung» eines Menschen, heisst es darin. «So unverständlich oder wenig nachvollziehbar diese aus sozialdemokratischer Sicht auch sind.»
Ein Weiterzug des Schiedsspruchs ist möglich – doch würde die nächste Instanz anders urteilen? Zudem sind in Niedersachsen am 9. Oktober Wahlen – der Streit um Schröder würde den Wahlkämpferinnen und Wahlkämpfern wie Blei an den Schuhen haften. Nee, lass mal.
Moral trifft auf Politik trifft auf Recht
Moral trifft auf Politik trifft auf Recht. So gesehen kann man sagen: Die SPD hat heute für einmal keine Politik gemacht – sie hat nach den Regeln der Statuten analysiert. Und nichts gefunden. Verstösse gegen die Parteiordnung: Fehlanzeige. Schröder habe den Krieg Putins gegen die Ukraine nicht gerechtfertigt, sondern sich sogar davon distanziert. Und in der Chefetage russischer Unternehmen zu verbleiben, ist auch keine Straftat.
So enttäuschend der «Freispruch» zumindest in erster Instanz für viele Genossinnen und Genossen sein mag: Etwas anderes wäre auch aus historischer Sicht fatal gewesen.
Das Recht, einer Partei anzugehören, ist ein demokratischer Grundpfeiler – nicht nur in Deutschland. Gerade die SPD hat den Politik-Ausschluss im «Dritten Reich» am eigenen Leibe erfahren, am 22. Juni 1933 wurde die Partei von Hitler verboten. Es begann eine Zeit der Verfolgung, die bürgerlichen Rechte von Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten waren Makulatur. Viele wurden gefoltert, gequält, ermordet.
Auch darum ist das Verfahren, jemanden aus einer Partei auszuschliessen, so kompliziert und langwierig, die Hürden so hoch. Total quer und stur in der Zeit zu liegen, reicht da nicht. Zum Glück.