Nathan war der Erste und monatelang der Einzige, der an den Ort des Schreckens zurückkehrte. Der 83-Jährige empfängt uns am Tor, das von israelischen Soldaten und Soldatinnen bewacht wird. Das Grummeln einer nahegelegenen Artilleriestellung ist auch in der Magengrube spürbar. Bis zur Grenze zum Gazastreifen sind es nur einige hundert Meter.
Tatort Kibbuz
Nathan Bahat steigt in einen Golfcart, seinem bevorzugten Fortbewegungsmittel hier. Gut 400 Menschen lebten im Kibbuz Nir Oz, einem Dorf aus meist einstöckigen Häusern zwischen üppigem Grün. Es hat etwas von einer Ferienanlage. Doch nachdem Nathan den Golfcart startet, wird bald deutlich: Nir Oz ist ein Tatort.
Nathan zeigt auf einen Betonbunker: «Dort haben sie in den Schutzraum geschossen und Leute herausgezogen.» Jede Ecke im Kibbuz Nir Oz erinnert an den schlimmsten Pogrom gegen Juden und Jüdinnen seit dem Zweiten Weltkrieg. In Nir Oz allein wurden nach Angaben der Gemeinschaft 50 Menschen getötet und 68 entführt. Über ein Viertel der Bevölkerung wurde ermordet oder als Geisel genommen. 28 Geiseln von hier sind noch immer in der Hand der Hamas – wie viele noch leben, weiss niemand.
Ich höre von manchen, dass sie es sich überlegen, ebenfalls zurückzukehren
Nathan kennt sie alle, die Ermordeten, die Entführten. Er hat überlebt, versteckt in seinem Haus. Nachdem er mit den anderen Überlebenden aus dem Dorf evakuiert worden war und sie in Hotels untergebracht wurden, ist Nathan bereits im Dezember zurückgekehrt.
Kaum jemand ist zurückgekehrt
Auf der Veranda, unter einem der Äste eines über zwanzig Jahren alten Baumes, den er mit seiner vor zwei Jahren verstorbenen Frau gepflanzt hat, sagt Nathan Bahat: «Das ist mein Zuhause. Es gibt kein Zweites. Ich fühle mich gut hier, und ich möchte auch vorangehen, eine Richtung vorgeben für die anderen. Ich höre von manchen, dass sie es sich überlegen, ebenfalls zurückzukehren.»
Das scheint allerdings mehr Wunschdenken als Realität zu sein. Auf unserem Rundgang ist kaum jemand anzutreffen. Überall ausgebrannte Häuser, in der Asche Erinnerungen an ausgelöschtes Leben. Bunte Seiten aus einem Kinderbuch, eine mit Geschirr gefüllte Spülmaschine, ein Rollator.
Traumatisiertes Kibbuz in Israel
Einzelne Leute arbeiten heute tagsüber wieder hier im Landwirtschaftsbetrieb. In der Garage trifft Nathan sie zum Mittagessen. Eine der wenigen Begegnungen: Yelena Troufanov. Vor zwanzig Jahren war sie hierhergezogen. Der Katzen wegen ist sie heute hier.
Zweimal wöchentlich fährt eine Freundin sie hierhin, mit mehreren Büchsen Katzenfutter. Yelena war am 7. Oktober von Hamas-Terroristen entführt worden, ebenso ihr Sohn, dessen Freundin und deren Mutter. Ihr Mann wurde ermordet. Im ersten Geiselabkommen kam sie frei. «Ich lebe jetzt in einem Hotel. Und warte auf die Rückkehr meines Sohnes, bis ich entscheide, wo ich in Zukunft lebe», sagt Yelena und verlässt den Kibbuz wieder.
60 Prozent der Häuser sind zerstört
Familien sind keine zurückgekehrt. Einer der Arbeiter übernachtet ebenfalls im Kibbuz, in einigen Häuser sind die Wachsoldaten und -soldatinnen einquartiert.
Wie Gemeindevertreter sagen, ist die Zukunft des Kibbuz noch nicht entschieden. 60 Prozent der Häuser sind zerstört. Auch die nahe Fabrik für Malerfarben, in der viele Arbeit fanden, ist zerstört. Wahrscheinlich muss alles neu aufgebaut werden.
Falls überhaupt jemand ausser Nathan an diesen Ort zurückkehren will.