SRF: Wieso haben Sie sich entschieden, die Kinder ins Zentrum ihres Filmes zu stellen?
Lyce Doucet: Die Entscheidung reifte nach mehreren Reportereinsätzen in Syrien. Als ich zuhause über das Erlebte nachdachte, merkte ich, dass die eindrücklichsten Geschichten und mutigsten Taten meist von Kindern stammten. Zudem ist der syrische Bürgerkrieg – wie jetzt auch der Krieg in Gaza – ein Krieg unserer Zeit. Kinder werden in diesen Kriegen nicht mehr nur zufällig oder versehentlich Opfer. Sie sind mittendrin im Krieg. Kinder werden gezielt angegriffen, ihre Häuser, ihre Spielplätze oder ihre Schulen sind Zielscheiben. Kinder sind – wider Willen – zu Akteuren geworden.
Ich habe erkannt, dass wir ihnen deshalb zuhören müssen. Denn sie haben uns nicht nur etwas über den syrischen Bürgerkrieg zu sagen, sondern auch über die Zukunft der gesamten Region. Mittlerweile reicht die Gewalt über die Grenzen Syriens hinaus und das wird weitreichende Konsequenzen haben. Deshalb sollten wir den Kindern zuhören.
Sie haben Kinder getroffen aus Assad-treuen Familien, aber auch Kinder aus Familien, die den Aufständischen nahe stehen. Abgesehen von der unterschiedlichen Rhetorik: Welche Gemeinsamkeiten haben Sie festgestellt?
Ich war offen gestanden bestürzt, wie stark politisiert die Kinder sind. Wir reden gemeinhin davon, dass Kinder in Konflikten zu schnell aufwachsen müssen. Im syrischen Bürgerkrieg erscheinen sie nur noch äusserlich als Kinder – in ihrem Denken, ihren Moralvorstellungen und ihrem Blick auf die Welt hingegen sind erwachsen. Zum Beispiel der Neunjährige, dessen älterer Bruder bei der Freien Syrischen Armee kämpft. Er sagt: ‹Wenn ich zwölf bin, muss ich auch in den Krieg ziehen.›
Oder der 14-jährige, der im Regierungsviertel von Damaskus wohnt. Und der wie sein Vater Uniform trägt und das Quartier gegen Assad-Gegner verteidigen will. Beiden Jungs wurde die Kindheit geraubt – und nun reden sie davon, das Vaterland mit Waffen zu verteidigen. Der eine für Präsident Assad, der andere gegen Assad.
Krieg verunmöglicht es Kindern, unbeschwert aufzuwachsen. Haben Sie bei den Kindern, die sie begleitet haben, dennoch Momente erlebt, in denen diese einfach nur Kinder sein durften?
Mein einziger Lichtblick war, dass diese Kinder verstanden haben, dass es anders sein sollte. Sie waren alle kleine Botschafterinnen und Botschafter für das Recht auf Bildung. Ich erinnere mich zum Beispiel an dieses 11-jährige Mädchen, von Albträumen an getötete Freunde geplagt, das nach über einem Jahr auf der Flucht wieder zur Schule gehen konnte und die mir mit Bestimmtheit erklärte: Jedes Kind hat das Recht, zu lernen und zu spielen.
Oder ein anderes Mädchen, das sich in der belagerten Stadt Homs während Monaten nur von Tierfutter ernähren konnte. Dieses Mädchen schämte sich dafür, dass es weder lesen noch schreiben gelernt hatte, dafür aber die Namen von Patronen und Granaten kannte. Denn sie wusste, dass daran etwas falsch war. In den letzten vier Jahren habe ich nur Kinder getroffen, die leidenschaftlich darum gebeten haben, in die Schule gehen zu dürfen.
Daneben ist aber schockierend, wie eben diese Kinder in Ihrem Film die gleichen Hassparolen verwenden, die sie wohl im Elternhaus gehört haben.
Experten könnten uns genauer sagen, weshalb Kinder welche Parolen übernehmen. Kinder werden ja durch ihr direktes Umfeld geprägt. Und die syrischen Kinder sind zudem tief gefangen im Krieg, der den Alltag bestimmt, aber auch die Sprache prägt. Vergessen sie nicht, dass sie teilweise den Tod von Angehörigen mitansehen müssen. Ein Mädchen erzählt im Film, wie eine Granate die eigene Mutter geköpft und den Bruder getötet hatte. Kinder müssen mit solchen Erlebnissen und Bildern klar kommen und sprechen natürlich von Rache, Wut oder davon, die Zukunft zu hassen. Wenn sich die Lage in Syrien entspannt, könnten sie vielleicht drüber hinweg kommen. Aber wenn der Krieg noch Jahre weiter geht, werden aus den Kindern Erwachsene, die nur den Krieg kennen. Sie entscheiden dann später, was im Land passiert.
Ihr Dokumentarfilm endet mit dem Satz: Diese Kinder sind die Zukunft Syriens – und je länger der Krieg andauert, desto dunkler wird diese Zukunft. Was ist Ihre grösste Befürchtung?
Meine schlimmste Befürchtung ist, dass eine ganze Generation in Syrien ohne Bildung aufwächst, dafür mit dem Hass des Krieges. Die Bürger sollten die wichtigste Ressource eines Landes sein. Dafür brauchen sie aber gemeinsame Werte, damit sie friedlich zusammen leben können. Das ist nicht mehr möglich. Ich habe Syrien vor dem Krieg als eines der gastfreundlichsten Länder der Welt kennen gelernt, wo verschiedene Ethnien und Religionen friedlich zusammen gelebt haben. Je stärker dieses soziale Gewebe nun durch den Krieg zerstört wird, desto schwieriger ist es, das Land neu aufzubauen. Die grosse Gefahr ist also eine dunkle Gesellschaft, wo das Licht der Hoffnung erloschen ist.