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Kleriker gewinnt Irak-Wahl Vom Ungeheuer zum Hoffnungsträger

Anti-amerikanisch, anti-iranisch, nationalistisch: Schiitenführer Muqtada al-Sadr ist der neue starke Mann im Irak.

«Kill or Capture» (Töten oder Festnehmen) lautete die Mission, mit der US-Kommandant Ricardo Sanchez im Jahr 2004 seine Truppen losschickte. Ein Jahr nach dem Sturz von Saddam Hussein drohte der Irak im Chaos zu versinken, und geht es nach den Amerikanern, war ein Mann massgeblich verantwortlich dafür: der schiitische Kleriker Muqtada al-Sadr.

Auf dem Höhepunkt des Aufstands gegen die amerikanischen «Besatzer» bezeichnete das Pentagon den Schiitenführer als grösste Gefahr für die Stabilität im Land. Noch vor Al-Kaida im Irak.

Soldat durchsucht eine Frau in Sadr-City.
Legende: Der Ruhm seines Vaters, Ajatollah Muhammad Sadiq al-Sadr, beförderte Muqtadas Aufstieg. US-Soldaten patrouillierten durch den Stadtteil Bagdads, der zur Machtbasis des Klerikers wurde. Reuters

Sadrs al-Mahdi-Armee war für zahlreiche Bombenattentate und Hinterhalte auf die Koalitionstruppen verantwortlich. Sadr City, ein von armen Schiiten bewohnter Stadtteil von Bagdad, wurde zur Machtbasis des Klerikers – und zum Grab vieler amerikanischer Soldaten.

Doch auch Sunniten, «Ungläubige», Homosexuelle und Linke wurden von Sadr-treuen Milizionären und religiösen Eiferern verfolgt. «In Sadr City herrschen die Ungeheuer», titelte die deutsche «Zeit».

Ein Vasall Teherans?

Bald schon sollten sich die schlimmsten Befürchtungen der USA bewahrheiten. Die konfessionelle Spaltung zwischen Sunniten und Schiiten mündete in einem blutigen Bürgerkrieg; und anstatt das Zweistromland sanft in die Demokratie zu geleiten, wurden die Soldaten der westlichen Militärkoalition zur Zielscheibe von Extremisten.

Sadr-Poster, dahinter beten seine Anhänger in Bagdad
Legende: Zeitweilig galt Sadr als irakische Version von Hassan Nasrallah, dem Anführer der libanesischen Hisbollah-Miliz, die Iran nahe steht. Getty Images

Schliesslich war es Sadrs ungeklärtes Verhältnis zum Iran, das ihn zum Schreckgespenst westlicher Geheimdienste machte. Als er 2008 in den Iran floh, um sich dem Zugriff der US-gestützten irakischen Regierung zu entziehen, verfestigte sich der Eindruck: Der charismatische Prediger ist ein Vasall Teherans.

Die vielen Gesichter des Muqtada al-Sadr

Nun, eine Dekade später, ist Sadr der neue starke Mann im Irak. Das von ihm angeführte Parteien-Bündnis geht als Sieger aus den Parlamentswahlen hervor. Der Favorit des Westens, Haider al-Abadi, erlebt gemeinsam mit dem politischen Establishment eine herbe Niederlage.

Sadr in einer Archivaufnahme
Legende: 2011 kehrte Sadr aus seinem Exil zurück: Der «Guardian» sprach von «einem erneuten iranischen Putsch in der Region». Keystone

Wird damit ein amerikanischer (und mithin ein israelischer und saudischer) Albtraum wahr? Ein sektiererischer Kleriker an den Schalthebeln der Macht in Bagdad? Ein Teheran-treuer Geistlicher, der den Irak weiter in den iranischen Einflussbereich rückt – und damit die Gräben zwischen Sunniten und Schiiten aufreisst?

Diese Befürchtungen dürften sich nicht bewahrheiten, glaubt NZZ-Korrespondentin Inga Rogg. Für sie steht Sadrs Biographie stellvertretend für den Wandel des Irak nach dem Sturz von Saddam Hussein. Heute sei Sadr eine «Mischung aus Politiker, Geistlichem, teilweise auch einem Rowdy und einem Staatsmann.»

Schiitische Milizionäre
Legende: 2014 rief Sadr schiitische Milizionäre zum Widerstand gegen den IS auf, der bald weite Teile des Irak eroberte. Reuters

Heute gibt sich Sadr als überkonfessioneller Nationalist und äusserte sich wiederholt dezidiert anti-iranisch. Der Wandel sei, so NZZ-Korrespondentin Rogg, durchaus glaubhaft: «Er gilt nicht mehr als Mann des Irans, das bestätigen auch Experten.»

Inga Rogg

Journalistin

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Inga Rogg ist freie Journalistin in Jerusalem. Sie berichtete zunächst für die NZZ von 2003 bis 2012 aus Bagdad, dann bis 2019 aus Istanbul. Von 2019 bis 2023 war sie NZZ-Korrespondentin in Jerusalem. Seit Sommer 2023 arbeitet sie als freie Journalistin.

Sadr selbst strebt kein politisches Amt an, führt aber eine breit gestützte Reformbewegung an – darunter finden sich Kommunisten und eine liberale, pro-amerikanische Partei.

Weit verbreitete Politikverdrossenheit

Das Bündnis nennt sich «Sairun», zu Deutsch: «Wir marschieren!». Ob beabsichtigt oder nicht: Ähnlichkeiten zu Emmanuel Macrons Bewegung «En Marche!» finden sich nicht nur beim Namen. An Wahlveranstaltungen inszenierte sich Sadr als Reformer, dessen Bündnis mit unverbrauchten Kandidaten gegen das politische Establishment antritt.

Sadr, einst als radikaler Eiferer gebrandmarkt, gibt sich nunmehr betont pragmatisch. Im Wahlkampf geisselte er die Korruption, setzte auf soziale Themen und versprach, eine neue Generation aufzubauen. Damit verlieh er, wie Rogg berichtet, der «tiefen Frustration über die politische Klasse Ausdruck. Zumal diesmal nicht mehr die Sicherheitslage im Zentrum stand.»

Demonstranten 2016 in Bagdads Grüner Zone
Legende: 2016 forderte Sadr die Regierung in Bagdad zu tiefgreifenden Reformen auf. Er mobilisierte zehntausende seiner Anhänger. Keystone

Mittlerweile gilt der 44-jährige Prediger gar als Mann, der sich mit den Saudis arrangieren konnte. Sadr habe im Verhältnis zu Irans Erzfeind «Pflöcke eingeschlagen», sagt Rogg: «Allerdings bleibt abzuwarten, was das alles aussenpolitisch am Ende bedeutet.» Denn Sadrs Bündnis brauche Koalitionspartner, um zu regieren.

Sadr mit Kronprinz Mohammed
Legende: Im Sommer 2017 trat Sadr in Jeddah mit dem saudischen Kronprinzen Mohammed zusammen. Reuters

Rogg hatte kürzlich Gelegenheit, mit einem einflussreichen kommunistischen Vertreter des siegreichen Bündnisses zu sprechen. Dieser habe sich für aussenpolitische Neutralität ausgesprochen: «Er sagte mir, dass man mit allen Ländern gute Beziehungen unterhalten wolle, was im Grunde genommen auch die Amerikaner einschliesst.»

Wie sich solche Aussagen in Politik übersetzen liessen, müsse allerdings abgewartet werden, so die NZZ-Korrespondentin. Fest steht: Mit Sadr betritt ein Mann die Bühne, der die politische Landschaft des Irak umpflügen könnte.

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