Dass die türkische Opposition die Grossstädte Ankara und Izmir würde halten können, war erwartet worden, nach den vorläufigen Ergebnissen gewann sie aber weitere Städte dazu. Und sie vermochte Istanbul zu verteidigen, die Wirtschaftsmetropole, in der Präsident Erdogan einst seine eigene politische Karriere begann.
Der Staatspräsident hatte sein ganzes politisches Prestige und viel Geld in den Wahlkampf geworfen, im Versuch, das symbolträchtige Rathaus für das Regierungslager zurückzuerobern. Dass die Revanche am Bosporus dennoch nicht gelang, ist die bitterste Niederlage dieses Wahltags für den einst so erfolgsverwöhnten Staatspräsidenten.
Ekrem Imamoglu siegte erneut, obwohl die Opposition zu diesen Lokalwahlen zerstritten angetreten war, gefangen seit den verlorenen Parlaments- und Präsidentschaftswahlen im letzten Mai in Abrechnungen und Flügelkämpfen. Verschiedene Kandidierende konkurrenzierten sich gegenseitig. Doch die türkischen Wählerinnen und Wähler trauten der Opposition offensichtlich mehr zu als diese sich selbst.
Wirtschaftskrise spielte der Opposition in die Karten
Drei Faktoren halfen den Erdogan-Gegnern: Die Wirtschaftskrise in der Türkei hält an, die Teuerung frisst die Kaufkraft weg, dafür erhielt das Lager des Staatspräsidenten die Quittung. Auch hatte vor den Wahlen eine kleine islamistische Partei Erdogan den Rücken gekehrt, das kostete die Regierungsseite Stimmen.
Vielerorts waren auch Erdogans Kandidaten nicht überzeugend. In Istanbul schickte der Staatspräsident einen farblosen Technokraten ins Rennen. Der Amtsinhaber beachtete ihn kaum, Imamoglu griff stattdessen direkt den Staatspräsidenten an. Er sei die Wahl für alle, die in der Türkei auf eine Alternative zu Erdogan hofften, so Imamoglus Kernbotschaft.
Der Hoffnungsträger der Opposition gibt sich als Kemalist, aber ohne elitäres Gehabe, das im Land viele an der ehemaligen Elitepartei abschreckt. Er stellt sich klar in die säkulare Parteitradition und hat doch keine Berührungsängste gegenüber Religion und Tradition. Damit unterläuft er geschickt Erdogans Lieblingsbehauptung, die türkische Opposition sei moralisch korrupt und vom Westen verblendet.
Imamoglu etabliert sich als wichtigster Gegenspieler Erdogans
Der Weg bis zu den nächsten Präsidentschaftswahlen ist noch weit und schon nach Imamoglus erstem Sieg in Istanbul vor fünf Jahren aktivierte das Regierungslager die Justiz, im Versuch ihn auszubremsen. Dass er das Rathaus gegen den mächtigen Staatsapparat und interne Widerstände zu verteidigen wusste, das stärkt ihn in seiner Rolle als wichtigster Gegenspieler Erdogans. Er ist der grosse Gewinner dieser Lokalwahlen, die der türkischen Opposition das Vertrauen in sich selbst zurückgeben.