«Ich komme nicht aus der Elite. Ich komme aus einem kleinen Dorf.» Das betont Ungarns Regierungschef Viktor Orban bei jeder Gelegenheit. Zu seiner demonstrativen Bescheidenheit gehört auch sein deklariertes Vermögen: ein halbes Haus in Budapest, ein ganzes im Heimatdorf.
Schaut man sich hingegen die Familie Orban an, zeigt sich ein anderes Bild. Investigativjournalistin Babett Oroszi zeigt eine Luftaufnahme eines Herrenhauses, das Orbans Vater gerade umbauen lässt. Das Anwesen ist als Bauernhof deklariert. Doch hier entsteht, verteilt auf sieben Gebäude und gut vor Blicken geschützt, eine grosse Bibliothek, eine unterirdische Garage, ein künstlicher See, Kapelle und Clubhaus.
Staatsaufträge für Vaters Kieswerk
Geschätzte Kosten: 30 Millionen Franken. Wie kann Orbans Vater sich das leisten? Diese Frage treibt Oroszi und andere Investigativjournalisten seit Jahren um. Es brauchte viel Arbeit, um herauszufinden, wie das Kieswerk von Orbans Vater an öffentlichen Aufträgen beteiligt ist, obwohl der Regierungschef stets sagt, seine Familie profitiere nicht vom Staat.
Den Überblick über Recherchen zu Orbans Familie hat Sandor Lederer von K-Monitor, einer unter anderem von Google finanzierten Organisation, die Berichte über Korruption in Ungarn sammelt. Demnach setzten regierungsnahe Unternehmer die Firma von Orbans Vater als Zulieferer für Bauaufträge der öffentlichen Hand ein.
Orbans Vater liefert Steine oder Betonelemente für Strassen und Eisenbahntrasseen – und das, obwohl seine Preise oft höher sind als die der Konkurrenz. Es scheint, als sei die Nähe der Firma zum Regierungschef die höheren Preise wert. Die hohen Margen bringen hohe Gewinne. Die Investigativplattform Direkt36 hat gezeigt: Die Firma von Orbans Vater ist für die Branche unüblich profitabel.
Ein Vermögen für Strassenlaternen
Unüblich ist auch, dass die Firma ihre Gewinne praktisch vollständig an die Aktionäre auszahlt. Zählt man zusammen, wie viel auf diesem Weg in den letzten Jahren auf dem Konto von Orbans Vater gelandet ist, kommt man in etwa auf die geschätzten Kosten für den Umbau des Anwesens.
Die EU sieht in solchen Vorgängen Beispiele für Korruption und will Ungarn deshalb Gelder streichen. «Ein grosses Missverständnis», meint der regierungsnahe Politologe Andras Lanczi, bis letztes Jahr Rektor der wichtigsten Wirtschaftsuniversität Ungarns. Was der Westen als Korruption bezeichne, sei eine «durchdachte Wirtschaftspolitik».
An Klientelismus orientierte Politik
Orban wolle eine patriotische Wirtschaft schaffen – mit einer eigenen Wirtschaftselite. Nur: Wieso muss diese Elite ausschliesslich aus Unternehmern bestehen, die dem Regierungschef nahe sind?
Lanczi stellt eine Gegenfrage: «Kannst du jemandem trauen, der sich politisch gegen dich wenden könnte?» Das könne sich kein Politiker leisten. Politische und wirtschaftliche Macht müssten Hand in Hand gehen. Zudem hätten auch frühere Regierungen für ihre Klientel gesorgt.
Kannst du jemandem trauen, der sich politisch gegen dich wenden könnte?
«Das stimmt», sagt Anti-Korruptionsaktivist Lederer. Aber noch nie sei Korruption in Ungarn so sehr Teil des Systems gewesen wie heute. Und noch nie habe eine Regierung so viel Vermögen zur eigenen Klientel geschleust. Oroszi, die Investigativjournalistin, wird weiter beobachten, was rund um das Herrenhaus von Viktor Orbans Vater passiert.
Sie träumt davon, den Regierungschef dort dereinst beim Sonnenbad auf der Terrasse zu fotografieren. Und ihm so sein Mäntelchen der Bescheidenheit zu entreissen.