Die Europäische Union kennt bereits Sanktionsregeln für Staaten, die gegen rechtsstaatliche Prinzipien verstossen; etwa dem Grundsatz nicht Folge leisten wollen, dass nationale Justizsysteme unabhängig von politischer Einflussnahme zu organisieren sind; oder dass europäisches Recht über nationalem Recht steht; oder dass Menschen wegen ihrer Religionszugehörigkeit diskriminiert werden.
Es kann nie Sanktionen geben
Gegen die EU-Mitgliedsstaaten Polen und Ungarn laufen solche Verfahren, die im Artikel 7 der EU-Verträge festgehalten sind. Das Problem: Diese Verfahren erreichen ihr Ziel gar nie, können gar nicht in Sanktionen münden, weil solche im Rat der Mitgliedsländer einstimmig beschlossen werden müssen. Weil Polen Ungarn deckt und Ungarn Polen, kommen Sanktionen gar nie zur Abstimmung.
Darum haben die EU-Staaten einen neuen Rechtsweg geschaffen, Verstösse gegen die Rechtsstaatlichkeit ahnden zu können. Er ist gekoppelt an die Auszahlung von Geldern aus dem EU-Budget an einen Mitgliedsstaat.
Seit einem Jahr ist dieser Rechtsstaats-Mechanismus in Kraft. Entscheidend ist, dass in diesem Fall bloss eine Mehrheit der EU-Staaten allfällige Kürzungen von EU-Mitteln beschliessen müssen. Polen und Ungarn könnten das nicht mehr blockieren. Polen und Ungarn haben gegen die Verordnung beim obersten europäischen Gericht geklagt. Das neue EU-Gesetz verstosse gegen die Verträge der EU und sei mit dem Artikel-7-Verfahren nicht vereinbar.
Generalanwalt: Neuer Mechanismus ist legal
Der Generalanwalt des EuGH kommt heute zu einem anderen Schluss. Er hat juristische Empfehlungen an das Richterinnen- und Richtergremium zu formulieren. Darin empfiehlt er, die Klagen von Polen und Ungarn abzuweisen. Der neu geschaffene Mechanismus sei sehr wohl mit den Grundsätzen des EU-Rechts vereinbar, so der Generalanwalt.
Der Begriff Rechtsstaatlichkeit unter dem neuen Mechanismus genüge den Mindestanforderungen an «Klarheit, Genauigkeit und Vorhersehbarkeit» und entspreche somit dem Grundsatz der Rechtssicherheit. Die Verordnung stelle zudem eine Budgetvorschrift dar, die eine unmittelbare Verbindung zwischen dem Verstoss gegen die Rechtsstaatlichkeit und der Auszahlung von EU-Geldern herstelle.
Das heisst, nicht alle Verstösse gegen rechtsstaatliche Prinzipien könnten sanktioniert werden, sondern nur jene in unmittelbarem Zusammenhang mit der korrekten Haushaltsführung der Europäischen Union, also zum Beispiel im Falle von Korruption in einem EU-Land. Nach Meinung des Generalanwaltes ist der Rechtsstaatsmechanismus also zielführend.
Nun liegt es am Europäischen Gerichtshof zu entscheiden. Die Richterinnen und Richter des EuGH sind frei. Sie könnten in ihrem Urteil dem Generalstaatsanwalt auch widersprechen. Das kommt aber nur in seltenen Fällen vor.