Mitten in der Sommerhitze lancierte Präsident Hashim Thaçi einen neuen Begriff in der allgemeinen Wortklauberei um Kosovo: «Im Rahmen von Grenzkorrekturen, müsse das Recht des Presheva-Tals auf eine Vereinigung mit Kosovo in den Dialog mit Serbien aufgenommen werden», postete er gewunden auf Facebook. Thaçi zirkelte sich damit um die eigentliche Bombe herum: Die Lösung des Kosovo-Konflikts über einen Gebietsaustausch.
«Abgrenzung zu den Albanern»
Konkret geht es um die Teilung Kosovos: Der mehrheitlich serbisch bevölkerte Norden ginge an Serbien, die albanischen Gebiete in Südserbien könnten zu Kosovo wechseln – oder mindestens Teile davon.
Ob Belgrad dann tatsächlich auch die Bahn- und Strassenverbindung nach Mazedonien («Korridor 10»), die durch das Presheva-Tal führt, an Pristina übergibt, ist höchst fraglich. Der «Korridor 10» ist ein paneurpäisches Verkehrsprojekt, welches Mittel- mit Südosteuropa verbindet. Über weite Strecken führt die Route durch die Staaten des ehemaligen Jugoslawiens.
Doch im Grundsatz sollen die Grenzkorrekturen auch für Serbien wie ein Zauberwort wirken. Als wäre der serbische Präsident Aleksandar Vučić mit Hashim Thaçi auf Facebook befreundet, begann er Anfang August fast zeitgleich über eine «Abgrenzung» Serbiens zu den Albanern zu sprechen: Gebiete, von denen nicht klar sei, wer sie verwalte, seien stets potenzielle Konfliktherde.
Seit 1999 im Schwebezustand
Nach der Nato-Intervention 1999 und dem Rückzug der serbischen Sicherheitskräfte ist es der internationalen Gemeinschaft nicht gelungen, eine klare Situation zu schaffen. Kosovo hat 2008 einseitig die Unabhängigkeit erklärt. Diese wird zwar von fast allen westlichen Staaten - auch der Schweiz - anerkannt, nicht aber von Serbien, Russland, China oder Spanien.
Objektiv haben beide Seiten gute Gründe den Schwebezustand fast 20 Jahre nach dem Krieg zu beenden. Serbien braucht dringend eine Lösung des Kosovo-Konflikts für den EU-Beitritt. Das gäbe Kosovo Gewissheit über die eigene Souveränität, damit Investitionen ins Land fliessen können. Noch immer ist der einzige, gemeinsame Nenner die UNO-Resolution 1244 von 1999 und das dazu gehörende militärisch-technische Abkommen von Kumanovo.
«Teile und herrsche»
Die allgemeine Unsicherheit seit der Trump-Wahl und die Schwäche der EU nach dem Brexit-Votum haben den serbischen Präsidenten Aleksandar Vučić in eine starke Position gebracht. Denn nach dem Vorbild der jugoslawischen Aussenpolitik im Kalten Krieg, pflegt er gute Beziehungen nach allen Seiten. Dazu hat er Serbien politisch praktisch gleichgeschaltet, verfügt also über die fast absolute Macht.
Die kosovarische Elite dagegen ist heillos zerstritten: Ministerpräsident Ramush Haradinaj regiert faktisch ohne Mehrheit. Vetëvendosje, die grösste Oppositionspartei, hat sich aufgespalten und Präsident Hashim Thaçi spielt sein ganz persönliches Spiel. Nach dem Prinzip «divide et impera» («teile und herrsche») gelingt es ihm immer wieder, seine Gegner zu entzweien und so unantastbar zu bleiben. Widerstand scheint zwecklos.
«Ich gebe, damit Du gibst»
So bleibt der Bevölkerung nur das grosse Staunen, wie flexibel die Mächtigen mit bisher unverrückbaren Positionen umgehen und wie wenig die Politiker in der finalen Phase der Verhandlungen auch nur im Ansatz nach einem ehrlichen Handschlag streben. So wie es 1993 Yassir Arafat und Yitzakh Rabin im Palästina-Konflikt zumindest versucht haben. Oder gar nach einer echten Versöhnung, wie einst zwischen Deutschland und Frankreich gelang. Ganz im Gegenteil.
Der Gebietsaustausch folgt dem nüchternen Prinzip des Gebens und Nehmens: Serbien anerkennt die kosovarische Unabhängigkeit und lässt dafür die mittelalterlichen Klöster im Südwesten Kosovos zurück – bis vor kurzem der emotionale Sehnsuchtsort der serbischen Politik. Kosovo dagegen wird dafür wohl auf die Mine von Trepça verzichten und den Stausee von Gazivode, der die beiden Kraftwerke Kosova A und B kühlt.
Backup der internationalen Politik
Der ganze Handel könnte schon Ende Jahr abgeschlossen sein. So sieht es zumindest der Zeitplan vor, den die serbischen Medien kolportieren. Dieses Wochenende besucht Aleksandar Vučić Nord-Kosovo und «hört sich die Sorgen der Bevölkerung an». Dann folgt eine Verhandlungsrunde in Brüssel mit Hashim Thaçi und Ende Monat spricht Vučić vor der UNO-Generalversammlung.
Den ganz grossen Auftritt erhofft er sich schliesslich an der Militärparade zum Ende des Ersten Weltkriegs am 11. November in Paris: Serbien im Kreis der Siegermächte. Vučić auf dem Podest mit Donald Trump und Emmanuel Macron. Die Chancen für den Deal stehen gut: US-Sicherheitsberater John Bolton und EU-Erweiterungskommissar Johannes Hahn wollen sich nicht gegen einen Gebietsaustausch sträuben. Einzig Bundekanzlerin Angela Merkel bleibt skeptisch.
Schwerer Stand für Vielvölkerstaaten
Doch Deutschland hat keinen Sitz im UNO-Sicherheitsrat. Letztlich wohl das entscheidende Gremium zur Legitimierung von Grenzverschiebungen auf dem Balkan. Hier haben Russland, China, die USA, Frankreich und Grossbritannien das Sagen. Sie müssen die Resolution 1244 ersetzen – und die Idee monoethnischer Staaten umsetzen: Serbien den Serben, Kosovo den Albanern.
Auf der Strecke bliebe das Jahrhunderte alte Zusammenleben verschiedener Völker und Kulturen auf dem Balkan. Ein Prozess, der mit dem Zusammenbruch des Osmanischen Reiches vor hundert Jahren begonnen hat: Am Anfang stand die Umsiedlung der Griechen aus der Türkei nach Griechenland – und umgekehrt. Vorläufiger Schlusspunkt war die Politik der ethnischen Säuberungen in Bosnien.
Menschliche Schicksale
So wecken die möglichen Grenzverschiebungen auf dem Balkan Ängste in der ganzen Region: allen voran in Mazedonien. Fast die Hälfte der Bevölkerung spricht Albanisch. Aber auch in Bosnien: Der Präsident der Republika Srpska möchte sich längstens vom bosnischen Gesamtstaat lossagen. Doch noch will Serbien offiziell nichts wissen von einer Vereinigung mit den bosnischen Serben. Die Büchse der Pandora soll geschlossen bleiben: Im Fall von Kosovo ginge es um einen Deal «sui generis».
Auch wenn Vučić und Thaçi ihre «Grenzkorrekturen» friedlich aushandeln, und die «Abgrenzung» ohne Gewalt vollzogen wird, die zwei neuen Polit-Vokabeln dieses Sommers treffen die Betroffenen ganz konkret. So befürchten die Serben im Süden Kosovos als Kleinstminderheit marginalisiert zu werden. Es wird ihnen zugutekommen, dass sie sich im Verlauf der Jahre in die kosovarische Gesellschaft integriert haben. Ihr Misstrauen gegen die neuen Grenzen teilen sie aber mit der albanischen Bevölkerungsmehrheit.