Seit Tagen befindet sich das politische Berlin in Aufruhr. Die überraschende Wahl des Thüringer FDP-Mannes Thomas Kemmerich zum Ministerpräsidenten vergangene Woche löste Schockwellen aus, die weit über das kleine Bundesland im Osten hinausreichen. Und ein Ende ist nicht in Sicht.
AfD ist ein Coup gelungen
Die Ereignisse in Thüringen warfen kein gutes Licht auf Annegret Kramp-Karrenbauer als Parteivorsitzende. Trotz ihrer im Vorfeld klaren Ansage an die eigenen Leute, keine gemeinsame Sache mit der AfD zu machen, liess sich die Thüringer CDU hinreissen, mit Unterstützung der AfD Thomas Kemmerich zum Ministerpräsidenten zu wählen.
Dieser vertritt die kleinste Partei im Parlament, war vor der Wahl praktisch unbekannt und ohne Regierungsprogramm angetreten. Das Manöver hatte einzig das Ziel, den bisherigen Ministerpräsidenten von der Linken, Bodo Ramelow, zu verhindern. Der Kollateralschaden: die zerstörte Glaubwürdigkeit der CDU.
Der AfD hingegen ist ein Coup gelungen: Die übrigen Parteien zerfleischen sich seit Tagen öffentlich, die Liberalen werden im ganzen Land beschimpft als Faschisten-Freunde, und die mangelnde Durchsetzungskraft Kramp-Karrenbauers hat sie gerade ihre Kanzlerkandidatur und ihr Amt als Parteivorsitzende gekostet.
CDU im Umgang mit der AfD gespalten
Ob nun berechnendes Kalkül von der Thüringer CDU oder schlicht Naivität – auf Linie sind die Christdemokraten nicht. Auch ausserhalb Thüringens regt sich schon länger Widerstand gegen die Doktrin aus Berlin, jedwede Zusammenarbeit mit der AfD sei Tabu. Das mag auch an Kramp-Karrenbauers Führung liegen. Sie schaffte es, manchen Graben in ihrer Partei zu schliessen. Diesen nicht.
Daneben liess Kramp-Karrenbauer in den letzten anderthalb Jahren kaum ein Fettnäpfchen aus, ob mit einem geschmacklosen Witz oder ihrem ungeschickten Umgang mit der digitalen Jugend. Ihr Ansehen in der Öffentlichkeit schwand und mit ihm der Rückhalt in den eigenen Reihen. Trotzdem war ihr Scheitern nicht allein ihr Fehler. Über ihr lag immer der lange Schatten der Kanzlerin, aus dem sie nicht herauszutreten vermochte.
Experiment gescheitert
Parteivorsitz und Kanzleramt zu trennen, war Merkels Idee gewesen. Dieser Schachzug hätte der Partei Luft und Zeit verschaffen sollen, sich für die nächste Bundestagswahl in Stellung zu bringen und der Wunschnachfolgerin die Möglichkeit gegeben, sich bis dahin zu profilieren. Doch der Plan war ein theoretischer, das Experiment ist gescheitert.
Die «ungeklärte Führungsfrage» gab Kramp-Karrenbauer als Hauptgrund an, warum sie zurücktreten wird. Sie sagte es deutlich, und sie sagte es mehrmals. Noch einmal wird die CDU diesen Weg nicht gehen.
Machtvakuum wächst
Nun sitzt nicht nur im Kanzleramt eine «Lame duck», sondern auch an der Spitze der Partei. Beide haben ihren Rücktritt angekündigt, beide bleiben noch im Amt. Wie die CDU so zu einer klaren Linie und überzeugender Stärke (zurück-)finden will, erschliesst sich nicht.
Doch erstmal will die CDU weiterwursteln. Einen «geordneten Übergang» vollziehen. Erst im Dezember sollen der Parteivorsitz und die Kanzlerkandidatur geregelt werden, diesmal beides zusammen. Bis dahin wächst das Machtvakuum. Mit unabsehbaren Folgen.
Tagesschau, 10.02.2020, 18:00 Uhr