Durch Barcelonas grossbürgerliches Stadtviertel Eixample zieht eine Gruppe von vielleicht 100 Demonstrantinnen und Demonstranten. Die meisten sind Anfang 20, viele haben einen Schal oder ein Halstuch ums Gesicht gebunden. Sie gehören zu den vielen Zehntausenden, die seit Tagen auf den Beinen sind aus Wut über das in ihren Augen ungerechte Urteil gegen Politiker, die nichts weiter getan hätten als Urnen aufzustellen – für ein verbotenes Referendum.
Unschuldige sitzen im Gefängnis
«In Spanien entwickeln sich die Grundrechte zurück», sagt Roger Costa, der sich am Umzug beteiligt. «Unschuldige Leute sitzen im Gefängnis. Das dürfen wir nicht dulden. Die grösste Ungerechtigkeit ist, dass die beiden Jordis in Haft sitzen. Das sind einfach nur zwei Bürgerrechtler, die nichts weiter getan haben, als zu friedlichen Demonstrationen aufzurufen.» Zu neun Jahren Haft hat das Oberste Gericht die beiden Aktivisten verurteilt.
Das harte Urteil hat auch jenseits der Reihen der überzeugten Separatisten viele geärgert. Zu ihnen gehört Silvia Gonzalez. Sie arbeitet als Angestellte in einem nahen Bekleidungsgeschäft und beobachtet den Demonstrationszug aus der Distanz. «Jeder sollte entscheiden können, was er machen möchte. Ich respektiere das natürlich, aber mich sollen sie auch respektieren. Das Leben muss in Barcelona weitergehen.»
Auch wenn ich mit dem Urteil nicht einverstanden bin – das Problem muss man mit anderen Mitteln als brennenden Containern lösen
Eixample war in den letzten Tagen immer wieder Schauplatz von gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen Demonstranten und Polizei. An einer Strassenkreuzung klebt eine grauschwarze Masse auf dem Asphalt. Es sind die Reste eines Containers, der am Vorabend in Flammen aufging. «Das ist nicht die beste Art, ein Problem zu lösen. Auch wenn ich nicht einverstanden bin, dass diese Menschen so lange ins Gefängnis müssen – aber das muss man mit anderen Mitteln lösen», sagt Gonzalez.
Die Bilder von den brennenden Barrikaden in Barcelona haben die Nachrichten in Spanien dominiert. Der katalanische Parlamentspräsident Quim Torra hat sich erst nach drei Tagen von der Gewalt distanziert. In Madrid drängt die Opposition den amtierenden Ministerpräsidenten Pedro Sánchez zu einer harten Hand. In Talkshows wird über die Radikalisierung der Unabhängigkeitsbewegung debattiert.
Da ist es Balsam für die Seelen vieler katalanischer Separatisten, dass am frühen Nachmittag der erste von mehreren Protestmärschen die Stadt erreicht. Aus fünf Orten in Katalonien waren die Demonstranten bereits am Mittwoch losmarschiert. In Barcelona wollen sie sich zu einer grossen gemeinsamen Demo treffen.
Ein nicht enden wollender Zug von Menschen zieht über eine der Einfallsstrassen Barcelonas. Die Stimmung ist fröhlich und friedlich. Fahnen werden geschwenkt. Viele tragen T-Shirts mit Emblemen der Unabhängigkeitsbewegung und winken glücklich, aber erschöpft in die Kameras. Andreu Villas aus Badalona hat sich dem Marsch erst auf den letzten Metern angeschlossen: «Wenn wir alle zusammenhalten, denken vielleicht manche darüber nach, wie ungerecht dieses Urteil ist.»
Wir wollen keine Gewalt,sondern unser Ziel mit friedlichen Mitteln erreichen
Villas will, dass den verurteilten Politikern die Strafe erlassen wird. «Ausserdem wollen wir zeigen, das wir ein friedliches Volk sind. Wir wollen keine Gewalt, sondern unser Ziel mit friedlichen Mitteln erreichen. Wenn sich so viele Leute versammeln, können wir das vielleicht schaffen.» Es sind solche Bilder, die die Unabhängigkeitsbewegung gerne von sich selbst sieht. Für einen Moment scheinen die Ausschreitungen der letzten Tage vergessen.