Benjamin Netanjahu wollte als Beschützer Israels in die Geschichtsbücher eingehen – nun wurde in seiner Amtszeit Israels Albtraum wahr: das Massaker vom 7. Oktober. Der Premierminister führt Krieg gegen die Hamas – und kämpft zugleich um sein politisches Überleben.
Kritiker geben seiner Politik eine Mitschuld, dass es zum Terrorangriff kam. Netanjahus Popularität ist im Keller. «70 bis 80 Prozent der Bevölkerung stehen zwar hinter dem Krieg gegen die Hamas. Gleichzeitig fordern genauso viele Bürgerinnen und Bürger den Rücktritt des Ministerpräsidenten», sagt Anshel Pfeffer. In Kriegszeiten sei das ungewöhnlich.
Anshel Pfeffer beobachtet den Langzeit-Premierminister – den viele «Bibi» nennen – seit vielen Jahren. Er ist Journalist bei der israelischen Zeitung «Haaretz» und hat eine nicht autorisierte Biografie über Netanjahu geschrieben.
Finanzierung der Hamas
Kritiker werfen Bibi vor, in der Vergangenheit die Terrororganisation Hamas unterstützt zu haben. Einer der schwerwiegendsten Vorwürfe: Netanjahu soll ab 2018 die Hamas indirekt gestärkt haben, indem er die Finanzierung der Hamas durch den engen Verbündeten Katar unterstützte.
Netanjahu habe sich so Ruhe erkauft und gehofft, dass die Hamas keine Angriffe mehr auf Israel verübt, sagt Anshel Pfeffer. Gleichzeitig habe er ein Interesse an einer starken Hamas gehabt, damit sie zum mächtigen Gegenspieler der verfeindeten Fatah im Westjordanland werden konnte.
«Netanjahu konnte sagen: Wie kann ich mit den Palästinensern verhandeln, wenn sie selbst gespalten sind?», sagt Anshel Pfeffer. Netanjahu wollte keine Zugeständnisse an die Palästinenser machen. Die Spaltung der Palästinenser – zwischen Fatah und Hamas – sei also in seinem Interesse gewesen.
In der Öffentlichkeit sagte Bibi wiederholt, dass er die Hamas zerstören wolle. «Aber privat sagte er, dass es in Ordnung sei, die Hamas in Gaza zu haben», so Pfeffer.
Koffer voller Geld
Weggefährten bestätigen die Millionen von Dollars, die in Koffern in den Gazastreifen gebracht wurden. Unter ihnen der zwischenzeitliche Ministerpräsident Naftali Bennett. Er war viele Jahre ein Verbündeter von Netanjahu.
«Ich habe die Geldkoffer gestoppt, weil ich glaube, dass es ein schrecklicher Fehler ist, der Hamas zu erlauben, all dieses Bargeld zu haben. Warum sollten wir sie mit Bargeld füttern, damit sie uns töten?», sagt Bennett in einem Interview mit dem Nachrichtensender CNN.
Polarisierung Israels
Die Politik von Netanjahu polarisiert. Schon in den 1990er Jahren hatte er Stimmung gegen das Oslo-Abkommen gemacht und den damaligen Regierungschef Jitzchak Rabin rhetorisch attackiert. Viele Israeli gaben ihm deshalb eine Mitschuld daran, dass 1995 ein israelischer Rechtsextremist Rabin bei einer Friedenskundgebung erschoss.
Netanjahu habe Spaltungen der israelischen Gesellschaft nicht erfunden, sagt Biograf Anshel Pfeffer. «Aber er hat diese Spaltungen ausgenutzt, vertieft und manipuliert. Wir sehen jetzt das polarisierte, sehr gespaltene Wesen der israelischen Gesellschaft. Und das ist zum grossen Teil Netanjahus Werk.»
Wie weiter mit Bibi?
Anshel Pfeffer glaubt, dass es in naher Zukunft zu Neuwahlen kommen könnte. Netanjahu dürfe man aber noch nicht abschreiben. «Netanjahu führt Wahlkämpfe, wie andere Frühstück essen. Es wird schwierig für ihn, aber er wird kämpfen.» Bibi sei wie eine Maschine – unermüdlich.