Seinen Hof bestellen darf Abdel Hakim seit mehr als zwei Monaten nicht mehr. Der palästinensische Bauer und studierte Psychologe aus dem Städtchen Kusra im besetzten Westjordanland fährt über eine ungeteerte Strasse auf einen Hügel. Von dort hat man Aussicht auf sein Land und auf die gegenüberliegende jüdische Siedlung Migdalim.
Der Mittfünfziger zeigt auf die israelischen Soldaten, welche die Siedlung bewachen. Nach internationalem Völkerrecht müssten diese auch die palästinensische Bevölkerung vor gewalttätigen israelischen Siedlern schützen.
«Das Haus da unten haben Siedler niedergebrannt, meine Hühnerfarm ebenfalls, und meine Olivenbäume haben sie umgebaggert», sagt Abdel Hakim. Wie die Siedler Anfang Oktober wüteten, ohne dass die Soldaten eingriffen, dokumentieren Aufnahmen der Überwachungskameras.
«Wenn ich meinen Olivenhain betreten will, gehen sie auf mich los», sagt Abdel Hakim. «Und hier haben sie seit dem 7. Oktober die Strasse blockiert.»
Am 11. Oktober erschossen Siedler drei Dorfbewohner. Abdel Hakim hält vor einem Haus, wo die Spuren der Gewalt noch sichtbar sind.«Dort haben sie die Fenster durchschossen,» sagt er. Auch hier: Videos zeigen, wie eine Gruppe bewaffneter Siedler auf das Haus schiessen. Ein fünfjähriges Mädchen und ihr Vater werden schwer verletzt.
«Und die Armee ist nicht da, um sie zu stoppen,» sagt Abdel Hakim. Insgesamt vier Palästinenser töteten die Siedler an diesem Tag in Kusra. An der Beerdigung am nächsten Tag hätten sie auch noch seinen Bruder und seinen Neffen getötet.
«So ist unser Leben. Ihr in der Schweiz, in Europa, ihr schlaft, steht auf, verwirklicht eure Träume. Warum nicht auch wir? Schon morgen kann eine Kugel meinen Sohn treffen und alle unsere Träume zerstören.»
Auch Angriffe in Huwara
Im nahegelegenen Städtchen Huwara töteten extremistische jüdische Siedler bereits am Tag vor dem Hamas-Angriff auf Israel den 17-jährigen Neffen des Gemeinderatsmitglieds Saddam Dumeidi.
Es geht doch nicht, dass man uns Häuser, Land und Einkommen wegnimmt, und die Welt sagt nichts!
Am 7. Oktober stellte die Armee Huwara unter Ausgangssperre und die Regierung liess Waffen an Siedler verteilen. «500 Geschäfte haben sie geschlossen – 40 Tage lang!», sagt Dumeidi. Und damit die Wirtschaft Huwaras komplett abgewürgt. Zudem verhindern Siedler, dass palästinensische Kinder zur Schule gehen. «Es geht doch nicht, dass man uns Häuser, Land und Einkommen wegnimmt, und die Welt sagt nichts!», empört sich Saddam Dumeidi.
Der Gemeinderat selbst ist machtlos. Huwara und Kusra befinden sich in der Zone B des Westjordanlandes: Diese verwaltet die Palästinensische Autonomiebehörde, aber faktisch ist sie unter der militärischen Kontrolle Israels.
Bisher erst zwei Festnahmen
Rund 270 Palästinenser und Palästinenserinnen wurden seit dem Beginn des Israel-Gaza-Krieges im Westjordanland getötet. Bisher haben die israelischen Behörden gerade mal zwei mutmassliche Täter verhaftet.
Die Regierung bewilligt derweil laufend neue Siedlungen in palästinensischen Gebieten, auch während des Krieges. Diese betrachtet die internationale Gemeinschaft als illegal. Deren Schweigen empfindet die palästinensische Bevölkerung als Heuchlerei.