Im Schatten des Krieges in Gaza hat die Gewalt auch im Westjordanland zugenommen. Seit dem Angriff der Hamas auf Israel sind laut UNO im Westjordanland über 180 Palästinenserinnen und Palästinenser getötet worden. Hunderte wurden aus ihren Dörfern vertrieben. Die Gewalt geht unter anderem auch von radikalen jüdischen Siedlern aus. Die Journalistin Gisela Dachs in Tel Aviv über die Situation im Westjordanland.
SRF News: Wie ist die Situation im Westjordanland?
Gisela Dachs: Es gibt grosse Spannungen, nicht erst seit dem 7. Oktober – aber seither sind sie noch grösser geworden. Zuletzt am vergangenen Donnerstag, als Palästinenser das Feuer an einem Checkpoint in Jerusalem eröffnet haben. Ausgehend von der Waffenmenge, die sie dabei hatten, war ein grosses Massaker geplant. Die Hamas hat dafür die Verantwortung übernommen.
Diese Atmosphäre wird ausgenutzt von einer Minderheit von sehr radikalen Siedlern, die auch im Namen von stärkerer Bewaffnung spezielle Reserveeinheiten gebildet haben.
Nun heisst es auch, die Gewalt gehe von radikalen jüdischen Siedlern aus. Inwiefern?
Schon vor dem 7. Oktober gab es eine ganze Welle von palästinensischen Anschlägen auf Siedler im Westjordanland. Jetzt herrscht Angst unter den Siedlern, dass man in ihre Ortschaften eindringen könnte, dass es Geiselnahmen geben könnte wie im Gazastreifen. Diese Atmosphäre wird ausgenutzt von einer Minderheit von sehr radikalen Siedlern, die auch im Namen von stärkerer Bewaffnung spezielle Reserveeinheiten gebildet haben. Sie versuchen so auch, mehr Fakten auf dem Boden zu schaffen.
Welches Ziel verfolgen denn diese radikalen Siedler jetzt?
Sie pflastern neue Strassen, schaffen neue Aussenposten, die auch nach israelischem Recht illegal sind. Sie besetzen Felder von Palästinensern – es gibt auch Berichte von Schüssen auf Palästinenser. Die Siedler gehen auch in ländlichen Gegenden vor, um Palästinenser von ihren Feldern und Häusern zu vertreiben. Nach der israelischen Menschenrechtsorganisation B'Tselem sollen gegen 1000 Palästinenser aus 16 Ortschaften in der Westbank davon betroffen sein.
Israelische Menschenrechtsorganisationen kritisieren, die Siedler würden die fehlende Aufmerksamkeit für das Westjordanland nutzen, um ihre Angriffe zu verstärken. Ihre Einschätzung?
Es gibt bestimmte Gegenden im Westjordanland, wo jetzt genau dies im Windschatten des Kriegs in Gaza passiert. Die Siedler nutzen das aus und argumentieren, sie bräuchten mehr Sicherheit. Zugleich nutzen sie auch aus, dass die Sicherheitslage an sich im Westjordanland sehr problematisch ist.
Wie gross ist denn diese Gruppe der radikalen Siedler? Im Westjordanland lebt ja insgesamt rund eine halbe Million jüdischer Siedler.
Die grosse Mehrheit der Siedler ist nicht so radikal. Ich würde schätzen, radikal sind vielleicht zehn Prozent. Sicherlich zählt dazu die «Noar Hagvaot», die sogenannte Hügeljugend, die die Aussenposten frei nach eigenem Gutdünken besetzt. Aber man hörte auch, dass radikale Israelis aus Israel selbst ins Westjordanland hinübergezogen sind, um bei solchen Aktionen mitzumischen. Es gibt bestimmte Siedlungen, da ist das Gefahrenpotenzial grösser – zum Beispiel in und um Hebron.
Die USA und die EU kritisieren die zunehmenden Angriffe der jüdischen Siedler und warnen vor einer weiteren Eskalation. Wie gross ist die Gefahr?
Es gibt sie auf jeden Fall. Die Armee sorgt sich vor Anschlägen, entweder innerhalb des Westjordanlands oder auch in Ortschaften auf der anderen Seite der Grünen Linie. Dann gäbe es chaotische Zustände im Westjordanland, in palästinensischen Städten, die auch niemand wirklich kontrolliert. Dazu kommt der Kontrollverlust der Palästinenserbehörde. All das kann sich aufschaukeln. Im Moment geht der Blick vor allem an die Front im Norden, mit der Hisbollah. Aber auch das Westjordanland ist eine potenzielle Front, auf die man aufpassen muss.
Das Gespräch führte Brigitte Kramer.